Kann ich ahnen, dass sich keiner für Garry Disher interessiert?
Freitag, Frankfurter Buchmesse. Die Hallen füllen sich. Leser:innen drängen an den endlosen Schlangen der Fans vorbei, die auf ein Autogramm der alljährlich wiederkehrenden Verlagsautor:innen warten. Wie immer also. Entspannt betrete ich Halle 3.1. Hier ist deutlich weniger Publikumsverkehr – ein paar Tipps für Insider gibt es trotzdem. Jetzt zum Beispiel. Ein Meet & Greet mit der australischen Krimigröße Garry Disher. Ich bin extra früher losgegangen, um definitiv ein signiertes Exemplar seines neuesten Geniestreichs »Stunde der Flut« zu ergattern. Noch zwei Gänge, einer. Dann sehe ich den Stand. Schaue mich um. Bin ich hier richtig? Irgendwie so … leer. Langsam trete ich heran, erkenne den Verleger Frank Nowatzki – und hinten in der Ecke noch einen Mann. Hätte ich ihn nicht vorher gegooglet, ich hätte ihn übersehen. Aber da sitzt Garry Disher, ein wenig verloren inmitten seiner Bücher. Ich hätte mir deutlich mehr Zeit lassen können. Ich trete zu ihm, erzähle ihm, dass ich ein großer Fan seiner Romane bin. Wir reden über dies und das, er fragt, wie mir sein neuester Krimi gefallen hat. Ich erzähle ihm, dass er in Deutschland leider ein Insidertipp ist, frage ihn nach seiner Lesetour, die er an diesem Wochenende beendet. Anschließend signiert er drei meiner Bücher – … ob ich die einzige war, die bei dem Meet & Greet mit Garry Disher Bücher gekauft hat?
Wäre ich vorbereitet und nicht so müde gewesen, ich hätte direkt an diesem Tag spontan ein Interview mit ihm geführt. Doch kann ich ahnen, dass Garry »The Genius« Disher alleine am Stand steht und sich keiner für ihn interessiert? Zum Glück reagiert Garry Disher extrem schnell auf die Interviewanfrage, die ich ihm nur ein paar Tage später schicke und es ergibt sich doch die Chance für ein Gespräch. Über gute Kriminalromane, seine Figuren, toxische Männlichkeit und seinen Autorenalltag. Viel Spaß beim Lesen!
Ihr wollt das Interview auf Deutsch lesen? Kein Problem, hier geht es direkt zur Übersetzung.
Übrigens
Dieses #KrimiKreuzverhör habe ich zusammen mit Martin Krist geführt. Auszüge des Gesprächs mit Garry Disher findet ihr in den »Bösen Briefen«, seinem monatlich erscheinenden Krimi-Newsletter. Lest dort für zahlreiche weitere Interviews, Einblicke in seine Autorenwerkstatt, exklusive Buchbesprechungen und vieles mehr unbedingt vorbei!
»Die Figuren sind wichtiger als der Plot«
Schreiben Sie Kriminalromane oder gesellschaftliche Dramen?
Obwohl ausgeführte Verbrechen und die Aufklärung von Verbrechen die wichtigsten Elemente meiner Bücher sind, nutze ich diese vor allem, um tiefgehende soziale Beziehungen zu erfassen: belastete Menschen auf dem Land in den Hirsch-Romanen und eine belastete Familie im Stand-Alone »The Way it is now« (»Stunde der Flut«). Mein vierter Hirsch-Roman, der in Deutschland noch nicht veröffentlicht wurde, beschäftigt sich mit den sozialen Spannungen, die mit der Covid-19-Pandemie einhergehen: Covid-Leugnung, die Impfgegner:innen und die Entstehung rechtsextremer Gruppen.
Was macht für Sie einen guten Kriminalroman aus?
Die Figuren sind wichtiger als der Plot. Die Hauptfigur sollte stark gezeichnet und interessant sein, kein Superheld, sondern in gewisser Weise fehlerhaft und verletzlich, aber auch nachvollziehbar und fähig. Eine Figur, mit der sich Leser:innen identifizieren können, die wie wir alltägliche Zweifel, Ängste und Skrupel hat, letztendlich aber trotzdem Dinge tut, vor denen wir uns fürchten. Wenn die Figuren nur Scherenschnitte sind, werden auch die geschickteste Wendung, die gefährlichste Situation, die dunkelste Materie oder plötzliche Offenbarungen die Leser:innen nicht bewegen.
Garry Disher
wurde 1949 in Australien geboren, wo er bis heute lebt und arbeitet. Auch seine Krimis erzählen vom Leben und Verbrechen „Down under“, wurden mehrfach ausgezeichnet und brachten ihm sogar eine Nominierung für den Booker Prize ein. In Deutschland ist Garry Disher vor allem für seine Wyatt-Romane und seinen Inspector Challis bekannt, in Australien veröffentlichte er außerdem zahlreiche Kinder- und Sachbücher zu historischen Themen.
© Darren James
Gewalt spielt in Ihren Romanen keine große Rolle. Klar, es gibt Verbrechen, aber Sie meiden deren Beschreibung. Wo sind Ihre Grenzen?
Ich versuche, überflüssige Gewaltszenen zu vermeiden. Eine Geschichte ist viel stärker, wenn sich die Leser:innen Brutalität und Gewalt nur vorstellen. Und die meisten meiner Figuren sind Polizisten, die erst nach einer Gewalttat zum Tatort kommen. Die Folgen dieser sind für mich viel interessanter als die Tat selbst. Die wahrscheinlich gewalttätigste meiner Figuren ist Wyatt – aber er ist ein professioneller Verbrecher, der Überfälle begeht, kein Polizist. Manchmal, wenn sein Leben in Gefahr ist oder er hintergangen wird, muss er gewalttätig werden. Er wendet nur um der Gewalt willen aber keine Gewalt an – und ich auch nicht.
»Viele meiner Ideeen kommen von der Vorstellung, welchen Kummer eine solche Geschichte auslöst«
Ihre Romane leben von treffenden Dialogen, Leichtigkeit und pointierten Beschreibungen der Szenerie. Wie viel Zeit steckt in einem einzelnen Kapitel? Wie kann ich mir die Arbeit an einem Ihrer Romane vorstellen?
Zuerst plane ich, anders als einige Kolleg:innen, alle meine Geschichten; verbringe mehrere Wochen damit, die großen Handlungsstränge auszuarbeiten und anschließend die einzelnen Kapitel und die einzelnen Szenen in den Kapiteln – bis das gesamte Buch in meinem Kopf ist (und auf Papierfetzen, die alle Kapitel umreißen). Das hilft mir sicherzustellen, dass es keine Wiederholungen gibt und jedes Kapitel eine klare Rolle in der Geschichte spielt und eine Weiterentwicklung zum vorherigen Kapitel ist. Ich berücksichtige in der Ausarbeitung auch alltägliche Dinge wie den Wochentag, die Tages- und Jahreszeit und wo die einzelnen Figuren sind. Das hilft mir, um dumme Fehler zu vermeiden (zum Beispiel wäre es für eine Figur eher eine langsame als eine schnelle Fahrt, wenn sie an einem nassen, kalten Winterabend um fünf Uhr nachmittags durch die Stadt fährt). Ich höre aber auch auf meinen Instinkt und die Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, wenn ein Aspekt der Handlung falsch ist.
Was das eigentliche Schreiben betrifft, so verbringe ich manchmal einen Morgen mit einem Absatz (besonders zu Beginn einer Geschichte mit einer neuen Figur, wenn ich versuche, die Sprache und die Stimmung der Figur in der Geschichte zu finden) und manchmal schreibe ich an einem Morgen vielleicht ein kurzes Kapitel.
In Ihrem neuen Roman »The Way it is now« (Stunde der Flut) weichen Sie von Ihrem bewährten Schema ab – es gibt nur eine Figur, eine Handlungsebene. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Die Idee für das Buch entstammt einer Reihe von Zeitungsartikeln über einen älteren Mann, der vor zwanzig Jahren wegen Mordverdachts an seiner Frau verhaftet worden war. Sein Sohn hielt ihn die ganze Zeit für schuldig. Doch dann starb der Vater während des Prozesses und es wurde bekannt, dass am Tatort fremde DNA entdeckt wurde (ältere Beweise wurden erneut geprüft). Viele meiner Ideen kommen von der Vorstellung, welchen Kummer eine solche Geschichte auslöst, aber ich bin nie daran interessiert, wahre Geschichten nachzuerzählen. Wie viele Autor:innen frage ich mich gerne »Was wäre, wenn …«, bis meine eigene Geschichte entsteht. Was, wenn die Leiche der Frau und Mutter nie gefunden worden wäre? Was wäre, wenn es zwei Söhne gäbe, von denen einer den Vater für schuldig erklärt und der andere denkt, er sei unschuldig? Es gibt so viele Dinge an einer Geschichte, die ich abfrage. Ist der Vater ein guter oder ein schlechter Mann? Wer würde ermitteln? (Eine vergleichbare Frage: Wer setzt am meisten aufs Spiel?) Wo lebt der Mann? Ist er verheiratet? Hat er einen Liebhaber? Was passiert in seinem Kopf und in seinem Leben? Und so weiter.
Auch Ihre Hauptfigur ist diesmal anders, zwar ein Cop, aber nicht im Dienst. Diesmal ermittelt er als Privatperson in eigener Sache. War Ihnen diese Abkehr von der Polizeiarbeit wichtig?
Als ich die Hirsch-Romane schrieb, habe ich begriffen, wie wichtig es ist, dass Hirsch ein einfacher, uniformierter Constable ist (Constable sind meist gewählte Amtsträger, die in Kommunen für öffentliche Ordnung sorgen. Anm. d. Red.), der allein arbeitet. Er hat wenig Macht im Vergleich zu anderen Ermittelnden in Kriminalromanen, die oft leitende Beamte in einem Team sind. Und so gab ich auch Charlie in »Stunde der Flut« weniger Macht – in diesem Fall, weil er seinen Vorgesetzten angegriffen hat und deshalb vom Dienst suspendiert wurde. Und eben weil er suspendiert ist, hat er nichts zu tun und entscheidet sich, einige private Ermittlungen zum Verschwinden seiner Mutter vor zwanzig Jahren (für die sein Vater verantwortlich gemacht wurde) durchzuführen. Es ist jedoch nicht einfach für ihn. Seine Befugnisse sind limitiert, seine alten Kolleg:innen misstrauen ihm und ihm fehlen die Möglichkeiten als Polizist sowie die polizeiliche Unterstützung, auf die er normalerweise zurückgreifen kann. Das ist nützlich für mich, denn es hilft Spannungen zu erzeugen.
Sie greifen im Roman unter anderem das Thema toxische Männlichkeit auf und schildern eine Szene, in der eine Frau nach der Anzeige eines Missbrauchs nicht ernstgenommen wird. Wieso haben Sie sich dazu entschieden, dieses Thema aufzugreifen und vor allem Ihren Protagonisten so reflektiert darüber nachdenken zu lassen?
Charlie gehört zur Abteilung für Sexualverbrechen und ist sich der Probleme bewusst, mit denen sich Vergewaltigungsopfer konfrontiert sehen, einschließlich der Angst davor, über Geschehenes zu berichten, dass ihnen nicht geglaubt wird und sie nachlässig behandelt werden. In Australien gibt es dazu eine stärker werdende Debatte und den Wunsch nach einer Reform – und ich fand Zeitungsausschnitte von vor zwanzig Jahren, die über sexuelle Übergriffe berichten, wie diese untersucht und strafrechtlich verfolgt werden.
»Ich muss als Autor frisch bleiben«
Ihre Bücher spielen immer in Ihrer Heimat, dieses Mal in einem kleinen Küstenort, porträtieren die Menschen und die australische Gesellschaft. Wie viel Garry Disher steckt in Ihren Romanen? Mit welcher Figur identifizieren Sie sich am meisten?
Ich neige dazu, Orte zu beschreiben, die ich gut kenne. Wenn ich in den Hirsch-Geschichten über die abgelegenen Landstriche im Outback schreibe, schreibe ich über den Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Und jetzt lebe ich einige Kilometer landeinwärts nahe einiger kleiner Küstenstädtchen südöstlich von Melbourne, dem Schauplatz von »Stunde der Flut«. Ich versuche aber, eher über erfundene Charaktere als über mich selbst zu schreiben. Die Figur, die mir am nächsten steht und die Figur, die ich am meisten mag, ist Hirsch. Die Figur, die ich gerne wäre ist Wyatt.
Zurück zu den Polizisten, zurück zu Hal Challis. Ich habe immer sehr bedauert, dass Sie die Reihe nach sechs Bänden beendet haben. War das von Anfang an geplant?
Ich schrieb Challis, als ich genug von Wyatt hatte und dann schrieb ich die Hirsch-Geschichten und zwei Stand-Alones, als ich genug von Challis hatte. Ich muss als Autor frisch bleiben; ich muss neue Figurentypen ausprobieren und neue Wege, mich ihnen anzunähern. Ich habe mich aber noch nicht von Hal Challis verabschiedet – ich weiß, wie beliebt er ist, und mir würde es gefallen, noch einmal über ihn zu schreiben (die weiblichen Figuren, Pam Murphy und Ellen Destry, interessieren mich übrigens mehr als Challis).
»Ich versuche in die Haut dieser Figuren zu schlüpfen«
Mit Wyatt, Hirschhausen und Challis schreiben Sie ganz unterschiedliche Figuren mit unterschiedlichen Intentionen in verschiedenen Serien – inwiefern unterscheidet sich die Herangehensweise an die einzelnen Charaktere und damit auch an die Bücher jeweils voneinander?
Als erstes arbeite ich heraus, welche Art von Hauptfigur die Geschichte tragen würde, die ich erzählen möchte: ein Berufsverbrecher (Wyatt), wenn ich eine launische, übermütige Geschichte schreiben möchte? Ein leitender Beamter, der für eine Polizeistelle zuständig ist (Hal Challis), wenn ich ein Polizeiverfahren schreiben möchte? Ein relativ unerfahrener und junger Beamter (Hirsch), wenn ich über eine Ein-Mann-Polizeistation im Outback schreibe? Dann, als Teil der Planungen, versuche ich, in die Haut dieser Figuren zu schlüpfen. Ich kann nicht mit dem Schreiben beginnen, bis ich sie sehen oder hören kann. Wenn ich sie einmal gut kenne (nach dem ersten Buch einer Serie), ist dieser Prozess leichter. Ich lasse sie aber trotzdem im Laufe der Serie wachsen, sie bleiben nicht statisch.
Wenn Sie Ihren deutschsprachigen Leser:innen eines Ihrer Bücher empfehlen dürften – welches sollten sie zuerst lesen?
Um einen Eindruck von meiner Bandbreite zu bekommen, empfehle ich den ersten Hirsch-Roman »Bitter Wash Road« (Unionsverlag) und den jüngsten Wyatt »Moder«.
Ihr seid neugierig geworden und möchtet ein Buch von Garry Disher lesen?
In Deutschland wird er bei Pulp Master und dem Unionsverlag verlegt.
Einen Überblick seiner Werke findet ihr hier: