Spring Awakening in Neubrandenburg: Man sollte genau hinhören.

zensiert, verboten, totgeschwiegen

Sexualität, Scham, Leistungsdruck – und eine Gesellschaft, die sich mit aller Kraft die Augen zuhält. In seiner Kindertragödie »Frühlingserwachen« erzählt Frank Wedekind schon 1891 von Jugendlichen, die spüren, dass da etwas in ihnen passiert – aber keine Worte und Antworten dafür bekommen. Statt Aufklärung gibt’s Prügel, statt Verständnis Schweigen.

Der Text war seiner Zeit weit voraus – und genau deshalb ein Skandal. Jahrzehntelang zensiert, verboten, totgeschwiegen. Heute gilt es als Klassiker der modernen Literatur. Und spätestens seit das Rockmusical Spring Awakening 2006 den Broadway eroberte, ist klar: Diese Themen sind nicht alt. Sie sind aktueller denn je. Jetzt schaffte es eine originale deutschsprachige Inszenierung nach Neubrandenburg. Und Regisseur Christoph Deuter zeigt einmal mehr, wie kluges und direktes Jugendtheater geht. 

© Christoph Deuter

Vor allem, weil er seine jungen Darsteller:innen ernst nimmt. Ihre Gedanken und Gefühle haben auf der Bühne Platz, ihre Konflikte werden nicht weichgespült. Statt Pseudodrama gibt’s Tempo, rasante Szenenwechsel und eine gewaltige Coming-of-Age-Story, die zeitgemäßer nicht sein könnte. Die musikalische Leitung des Orchesters übernimmt Agi Nelken, für die Choreografie zeichnet sich Sophie-Marie Podgorny verantwortlich. Sie übernimmt außerdem die Hauptrolle der Wendla, einer jungen Frau, die spürt, dass sich etwas in ihr verändert, jedoch keine Er- und Aufklärung erfährt. 

In den Szenen mit ihrer Mutter wirkt sie beinahe zu brav für das, was in ihr brodelt. Und wenn sie dann auf den geheimnisvollen Melchior trifft, ist da plötzlich diese Mischung aus Neugier, Angst und etwas, das vielleicht Liebe ist. Ihre Darstellung ist in den richtigen Momenten leise, naiv und zurückhaltend. Dann wieder kraftvoll und strotzend vor Idealen. 

Der hat Überzeugungen

Ben Schönfeld spielt Melchior als reflektierten, aufgeklärten Gegenpol zur repressiven Erwachsenenwelt – impulsiv und emotional. Der hat Überzeugungen. Besonders in der Auseinandersetzung mit seinem besten Freund Moritz zeigt er aber auch, wie ambivalent seine Rollenhaltung zwischen Rebellion und Verantwortung schwankt. Maximilian Krotz verkörpert diesen Freund als überforderten Schüler, dessen Ängste und innere Zerrissenheit sich zunehmend verdichten. Ihm fehlt die Luft zum Atmen. Seine Verzweiflung  und der psychischen Druck des gewalttätigen Vaters treiben ihn zum Äußersten, mutig gespielt und noch berührender inszeniert. Was für ein traurig-schöner Bühnenmoment. 

© Christoph Deuter
© Christoph Deuter

Kein Schulprojekt mit Applausgarantie

Und von diesen soll es noch so viele mehr geben, denn auch die Freundinnen und Freunde der Hauptfiguren tragen ihre Schicksale und Erfahrungen mit dem Älterwerden mit sich herum. Sei es Martha, gespielt von Anna Schmid, die in einem bitteren Monolog ihre Missbrauchserfahrungen schildert. Frieda Finning als Ilse, die verstoßen und alleine lebt oder Enno Plönzke als Hans, der seine sexuelle Orientierung hinterfragt, jedoch vergeblich auf Verständnis hofft. Sie alle füllen dieses Stück mit so viel Leben und Leidenschaft, dass man gar nicht weiß, ob man sich für dieses mutige Ensemble freuen oder ob der dramatischen Geschichte weinen soll. Spring Awakening in Neubrandenburg ist kein Schulprojekt mit Applausgarantie – das ist wuchtiges Jugendtheater mit Haltung, Tempo und verdammt viel Gefühl.
Wer da noch denkt, dass junge Menschen nichts zu sagen hätten, hat wahrscheinlich schon lange nicht mehr richtig hingehört.

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