Kann man auf diesen oft ausgegrabenen und viel zitierten Stoff von Shakespeare wirklich noch einen neuen Blick werfen? Ja, kann man. »Liebe, Sex und Tod« sind die großen Themen des Komponisten-Duos Peter Plate und Ulf Leo Sommer – und damit begeistern sie auch zur Wiederaufnahme das Publikum im Theater des Westens.
Es spielte am 22.04.2025 das Ensemble von ROMEO & JULIA – LIEBE IST ALLES im Theater des Westens in Berlin unter Regie von Christoph Drewitz, Choreografie von Jonathan Huor nach einem Stück von Peter Plate und Ulf Leo Sommer.
Sitzplatzempfehlung: Hochparkett, Reihe 1/ Platz 1 oder Parkett links, Reihe 6, Platz 6
Erst war das Wort, dann kam der Streit und dann der Krieg.
2014 bat eine Schauspielerin das Rosenstolz-Duo Peter Plate und Ulf Leo Sommer, ein paar Songs für eine Romeo & Julia-Inszenierung in Kiel zu schreiben. Es war ihre erste Begegnung mit Shakespeare – und mit dem Musicalgenre. Doch das Stück ließ sie nicht mehr los: 2017 folgte ein Workshop, 2023 die gefeierte Premiere in Berlin. Und jetzt, 2025, kehrt ROMEO & JULIA – LIEBE IST ALLES endlich zurück ins Theater des Westens. Die Musik stammt von Plate und Sommer, der Text ist eine gekürzte Fassung der berühmten Schlegel-Übersetzung.

Seit jeher herrscht in Verona ein erbitterter Krieg zwischen den Familien Capulet und Montague. Auf einem Ball trifft Romeo, einziger Sohn der Montagues, auf Julia, die schöne Tochter der Capulets und verliebt sich unsterblich in sie. Allen Konventionen zum Trotz lassen sie sich nur wenige Tage später vom Pater Lorenzo trauen. Jedoch eskaliert der Streit der Familien, als Julias Cousin Tybalt Romeos besten Freund Mercutio umbringt, Romeo diesen rächt und aus der Stadt verbannt wird. Ist Romeos und Julias Liebe stärker als diese Tragödie?
Man kann mit dem Ende auch den Anfang klarer seh’n.
Und so beginnt die Geschichte genau dort – mit dem Ende. In einer großen Rückblende entfaltet sich Shakespeares Tragödie als überraschend vielschichtiges Spiel zwischen Ironie und Pathos. Der erste Akt: voller Wortwitz, Doppeldeutigkeiten und jugendlichem Überschwang. Romeo, ganz im Stil eines gebeutelten Rockstars, klagt über Rosalinde, bis ihm Julia begegnet – und plötzlich ist alles anders. Die berühmte Balkonszene? Neu gedacht, ausgereizt, verständlich bis in die letzte Nuance. In dieser Wiederaufnahme jetzt etwas klassischer, ein bisschen textbasierter. Basic, aber immer noch punktuell-humoristisch. Im zweiten Akt weicht der Witz der Tragik. Die Zeit läuft erbarmungslos, und mit ihr steuert die Geschichte unausweichlich auf ihr dramatisches Finale zu.

Wir sind die einen, wir sind Verona, wir sind das Blut.
Diesen Bogen zu spielen und eine bekannte, und aus heutiger Sicht inhaltlich doch etwas dürftige, Geschichte sinnhaft und neu zu erzählen, das erfordert Timing. Dass dieses Kreativteam das drauf hat, haben sie in der Kombination bereits bewiesen. Auch die Wiederaufnahme trägt die eindeutige Handschrift von Drewitz’ schnellen Anschlüssen und seinem Gespür für Momente, die den Zuschauenden fordern. Andrew D. Edwards kleidet die Figuren in urbanen und modernen, teils aber auch typisch viktorianischen Gewändern. Tim Deiling zeichnet sich für das spektakuläre Lichtdesign verantwortlich, das die einfach gehaltene Drehbühne perfekt in Szene setzt. Huor belebt eben diese mit modernen Choreografien, die Musical mit wunderschönem Contemporary vereinen und Plate und Sommer umrahmen mit teils neuer Musik und Variationen des bekannten Arrangements.
Von Rosenstolz über Popmusical bis Countertenor – sie zeigen wieder einmal die volle Bandbreite. An diesem Abend hält Sander van Wissen als Todesengel die Fäden auf der Bühne zusammen und wechselt mühelos zwischen Musicalstimme und berührendem klassischem Gesang und zeigt dabei eindrucksvoll, wie kraftvoll diese Verbindung sein kann. Gemeinsam mit Pater Lorenzo, erneut gespielt von Anthony Curtis Kirby, führt er durch die Geschichte. Dieser fungiert als Erzähler und entscheidender Dreh- und Angelpunkt. Kirby spielt dabei seine eigene Interpretation des ursprünglich streng christlichen Bruders. Kirche wird in diesem Stück eindeutig als Glaube an Natur, Menschheit, Güte und die eigene Kraft interpretiert. Menschen machen Fehler – auch, wenn sie so eine wichtige Position haben wie Pater Lorenzo. Diese Auslegung ist zeitgemäß und wird von Kirby liebevoll und mit einem Augenzwinkern umgesetzt.
Hände weg von schönen Männern, denn sie werden zum Problem.
Gleich zu Beginn stürmen die drei Freunde Mats Visser als Romeo, Dominik Räk als Benvolio und Wolfram Föppl als Mercutio die Bühne und markieren ihr Revier der Montagues in Verona. Den Dreien sitzt der Schalk im Nacken und man kauft ihnen die Teenager und Freunde, die sie spielen, wirklich ab. Allen voran ist da an diesem Abend Wolfram Föppl, der seine spontane Premiere als verliebter und insgeheim für Romeo schwärmender Mercutio hat. Ja, diese Interpretation gab es schon oft, man kann sie im Original herauslesen und erlebt sie jetzt endlich mal auf einer Bühne. Föppl spielt die Rolle zerbrechlich, emotional und dank eines neuen Solos für Mercutio dürfte nun auch dem Letzten im Publikum klar sein, was seine Figur im Innersten umtreibt. Er ist und bleibt für mich eine der tiefsten und schönsten Rollen der Show, die mit ruhigen Momenten und starkem Musicalbelt sein volles Potenzial ausschöpft. Ich bin so froh, Wolfram Föppl in dieser Rolleninterpretation so frisch, spontan und mutig erlebt zu haben!

Jugend will Romantik, schaufelt dabei ihr eigenes Grab.
Auf der anderen Seite Veronas stehen immer noch die Lady des Hauses Lisa-Marie Sumner als Lady Capultet sowie neu an ihrer Seite Fredy Kuttipurathu als Lord Capulet. Das Paar steht für Reichtum, Geld und das damit einhergehende bequeme Leben. Sie sind hart, oberflächlich und bleiben es auch während der Show. Konsequent, aber leider immer noch mit wenig Rollenentwicklung und zu spontanen Emotionsausbrüchen. Außerdem lebt in Verona Felix Freund als Julias furchteinflößender und hitziger Cousin Tybalt. Die erbitterten Kämpfe zwischen ihm und den Montagues werden durch das Ensemble erzählt und erreichen ihren Höhepunkt, als Mercutio von Tybalt getötet und dieser daraufhin von Romeo gerächt wird. Eine eindrucksvolle Szene, die den ersten Wendepunkt der Geschichte markiert.
Und dann ist da noch Maike Katrin Merkel als Amme. Seit der Premiere und eigener Soloshow ist unlängst klar, dass diese Rolle eindeutiger Publikumsliebling ist. Merkel tritt hier in große Fußstapfen und teilt sich die Rolle mit Steffi Irmen, verstecken muss sie sich dabei aber keineswegs. Sie spielt die Rolle zwar etwas gesetzter und ruhiger, doch keineswegs zurückhaltend oder weniger lustig. Immer noch: Ganz großes Kino!
Ich brenn für dich, verbrenne mich, für dich.
Celina dos Santos und Mats Visser als Julia und Romeo. Celina, die vielen noch als Monika aus Ku’damm 59 im Ohr geblieben ist, spielt hier eine Julia, wie sie frischer kaum sein könnte: jung, naiv, unendlich verliebt – und dabei musikalisch eine Wucht. Ihre Stimme ist glasklar, voller Gefühl, und in den neuen Arrangements bringt sie eine beeindruckende Bandbreite zum Vorschein. Mal beltet sie um ihr Leben, mal schwebt sie fast zerbrechlich durch die leisen Töne – und genau das macht ihre Julia so nahbar. Die Liebe ist stark und die Verzweiflung fast noch stärker, extrem berührend!

Und ihr Bühnenpartner Mats Visser steht ihr in nichts nach. Sein Romeo ist weniger vertrottelter Träumer, dafür präsenter, geerdeter, ein wenig taffer – und genau deshalb so überzeugend. Er bringt Kraft und Wärme in die Rolle, hat eine starke Bühnenpräsenz und ergänzt Celinas Julia perfekt. Zusammen sind sie ein glaubwürdiges Paar mit großer emotionaler Dynamik. Und vor allem: Sie sind nicht perfekt. Sie sind Menschen – voller Gefühl, Zweifel, Leidenschaft. Genau das trägt die Geschichte. Und macht sie so berührend.
Ein neuer Morgen, denn nach dem Krieg ist vor dem Krieg.
Meine Erwartungen an ROMEO & JULIA – LIEBE IST ALLES waren auch zur Wiederaufnahme nicht gerade niedrig – und trotzdem wurde ich überrascht. Da haben sie wirklich nochmal einen draufgesetzt. Diese Show ist keine Kopie der Premiere, sie lebt, atmet, entwickelt sich weiter. Die Mischung aus moderner Popmusik und klassischer Sprache funktioniert nach wie vor grandios. Die diverse Besetzung, das stimmige Ensemble und die stilvolle Inszenierung machen daraus mehr als ein Musical – sie machen es zu einem Statement.
Ich habe gelacht, geweint und war mittendrin in einer Geschichte, die uralt ist und trotzdem heute mehr denn je berührt. Shakespeare, Musical und Rosenstolz auf einer Bühne – verpasst das nicht.