Mit seiner politischen Kritik und den moralisch diskutierbaren Haltungen könnte es eigentlich kein relevanteres und spannenderes Stück für die Abschlussarbeit eines Studienganges geben, als Ödön von Horwarths »Jugend ohne Gott«. Im bezeichnenden Fall der Inszenierung der Theaterakademie Vorpommern aber auch keinen eindeutigeren Verlust von Haltung auf einer Bühne.
Adaption & Reproduktion
Ich war wirklich gespannt auf die Umsetzung dieses Stückes. Natürlich kenne ich das Original, in dem ein Lehrer um 1937 vor seiner abgestumpften Klasse steht und sich mit rassistischen Äußerungen konfrontiert sieht. Kinder, die unreflektiert ihr eigenes Umfeld spiegeln und der harte Einfluss eines menschenverachtenden politischen Systems kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Der Roman hat auch heute noch Relevanz, erinnert in seiner Aktualität an »Die Welle« und wurde ab 1939 verboten. Aus heutiger Sicht liest er sich immer noch gut, ist an vielen Stellen, und mit seinen politisch inkorrekten Begriffen, aber längst überholt. 2017 wurde er von Alain Gsponer erfolgreich verfilmt, von Grund auf modernisiert und in die heutige Zeit geholt, ohne dabei seine wesentlichen Aussagen einzubüßen. Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass auch eine Bühnenfassung aus dem Jahr 2023 diesen Wandel (in welcher Form auch immer) vollzogen hat.

Doch nichts da. In den ersten paar Szenen fällt mehrfach das N-Wort, Natives werden mit dem I-Wort benannt, es werden munter Flaggen geschwenkt und Parolen geschrien. Ich würde die Kritik an dieser Stelle am liebsten beenden, mache ich aber nicht. Erlaubt mir stattdessen eine kurze Differenzierung, bei der ich bewusst darauf verzichte, Namen und damit Verantwortliche zu nennen.
Natürlich habe ich schon Stücke gesehen, die um 1939 und in der Zeit des Zweiten Weltkrieges spielen und dagegen ist auch nichts einzuwenden. Sofern ich den Eindruck habe, dass das, was auf der Bühne passiert, in aller Konsequenz (und ihr wisst: ich LIEBE konsequente und explizite Darstellungen auf einer Bühne!) trotzdem die heutigen moralischen Werte vertritt. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich nichts gegen Inszenierungen eines originalen Theaterstücks oder die kritische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg habe.
Unreflektiert
Ich habe aber sehr wohl etwas gegen den unreflektierten Umgang mit Sprache und Zeitgeschichte. Zu Darstellungszwecken einer Figur und deren Haltung müssen keine politisch inkorrekten, rassistischen und diskriminierenden Begriffe reproduziert werden. Schon gar nicht, wenn die zeitgemäße Adaption bereits vorliegt. Das N-Wort auf einer Bühne auszusprechen ist kein mutiger Tabubruch, keine gewagte Entscheidung, keine künstlerische Freiheit – es ist ein eindeutiger Verlust von Haltung und Werten und eine so denkbar blöde Idee, dass sie nur von privilegierten Menschen kommen kann, die sich noch nie kritisch mit ihrer eigenen Vergangenheit oder Kolonialgeschichte (die im Stück sogar Thema ist!) befassen mussten. Geschweige denn Rassismus erlebt haben. Ich zitiere an dieser Stelle gerne Studierende der Universitäten Bochum und Frankfurt, die sich in einem Seminar mit dem Thema Dekolonisierung von Theatern auseinandersetzen:
»Weiße Menschen sollten akzeptieren, dass sie nicht entscheiden dürfen, ob das N-Wort verletzend ist oder nicht, egal wie es gemeint ist und in welchem Kontext es benutzt wird. Es kann eine Möglichkeit sein, das N-Wort abzukürzen und nicht auszusprechen oder den rassistischen Charakter, der auf der Bühne dargestellt werden soll, anders rassistisch zu markieren. […]«
(Vgl. Lina Schonebeck in „Das N-Wort auf der Bühne: Wo beginnt Reproduktion von Rassismus?“)

Die Gedanken hinter diesem Stück interessieren mich
Und nein, abgesehen von dieser Reproduktion, gibt es auch sonst leider nichts Gutes über die Inszenierung zu sagen. Sie ist an vielen Stellen zu laut, zu laienhaft, zu überladen. Das Stück passt kaum zur Besetzung, die Story war unverständlich, wenn man sich nicht schon vorher damit auseinandergesetzt hat. Generell war ich von allem relativ gelangweilt und relativ entsetzt. Schade, weil das Theater Vorpommern noch eigentlich einen guten Ruf genießt. Und schade, weil es mal wieder Schauspielende sind, die auf einer Bühne stehen und anscheinend so gar nichts hinterfragen. Oder so gar keine Meinung und Rückgrat haben, aber das will ich nicht glauben.
Andere Kritiker:innen würden an dieser Stelle einen Skandal ins Rollen bringen und hätten auch die Macht dazu. Ich würde mir im ersten Schritt wünschen, dass Regie und Schauspielende nach der Vorstellung zu einem reflektierenden und kritischen Gespräch einladen. Nicht, dass man Äußerungen damit entschuldigen könnte, aber man könnte sie zumindest einordnen. Ich würde mir außerdem intern einen kritischen Umgang mit der Thematik wünschen und bin auch gerne bereit, ein Statement zu veröffentlichen, ins kritische Gespräch zu kommen oder Aussagen ggf. zu relativieren. Schreibt mir einfach an sarah.lippasson@gmail.com, die Gedanken hinter diesem Stück interessieren mich. Wirklich!