Über die Einladung zur Premiere der Neuinszenierung von LINIE 1 habe ich mich sehr gefreut. Nicht nur, weil dieser Kassenschlager wie kein anderer für das Lebensgefühl der 80er und Berlin steht, sondern auch, weil ich selbst seit fast zehn Jahren in einer Adaption des Stückes mitspiele. Ich kann jeden Text mitsprechen, habe jede Szene selbst hunderte Male geprobt, weiß um den Charme und Erfolg dieser Nostalgieschleuder seit 1986 – umso gespannter war ich, ob mich das Original im Grips Theater immer noch überzeugt und mit der neuen Inszenierung vielleicht sogar überrascht.
Es spielte zur Premiere am 30.03.2023 das Ensemble von LINIE 1 im Grips Theater Berlin unter Regie von Tim Egloff, Choreografie von Bahar Meric, Text von Volker Ludwig und Musik von Birgit Heymann mit der Rockband NO TICKET unter musikalischer Leitung von Matthias Witting.
Sechs Uhr Vierzehn, Bahnhof Zoo.
Die Geschichte dieser Revue ist so simpel wie erfolgversprechend: Ein junges Mädchen aus der Provinz sucht in Berlin nach dem Rockmusiker Johnnie, in den sie sich bei einem Konzert verliebt hat. Ahnungslos steigt sie in die U-Bahn-Linie 1 und trifft auf ihrer Reise nicht nur Typen und Schicksale, sondern auch auf Freunde und das Lebensgefühl Berlins um 1986.
Die gute Nachricht für alle Fans der schlagfertigen Texte von Volker Ludwig: diese wurden bei der Neuinszenierung nicht angefasst. Krischi und Uli fragen immer noch nach ’ner Mark, die Witwen schnarren immer noch im Witz einer Zeit, in der es mutig war, Männer in Frauenkleider zu stecken, und es gibt immer noch den ewigen Einheitsbrei aus ARD und ZDF. Das Stück wirkt trotz neu arrangierten und interpretierten Liedern und Choreografien sowie der überarbeiteten Kulisse entsprechend altbacken, an vielen Stellen skurril und etwas aus der Zeit gefallen. Wer es heute zum ersten Mal sieht, wird kaum verstehen, wie das zum Klassiker und einem der größten Theatererfolge weltweit werden konnte, es ist einfach überholt und funktioniert im Kontext moderner Inszenierungen nicht wirklich. Weiß man das und lässt sich auf die dreistündige Fahrt mit der U-Bahn ein, wird man am Ende trotzdem einen unterhaltsamen Theaterabend haben.
Die Tür schnappt zu, der Zug fährt ab, zurückbleiben - mal wieder zu knapp.
Passend zur Neuinszenierung, ist auch der Cast neu und, anders als in so manchen Besetzungen der letzten dreißig Jahre, fast ausschließlich mit studierten Musicaldarsteller:innen besetzt. Soll heißen: Die Songs klingen in ihrer neu arrangierten Form richtig gut, die Stimmen passen perfekt ins Stück und musikalisch wurde, auch dank der Live-Band NO TICKET, wirklich alles rausgeholt. Die Hauptrolle übernimmt Helena Charlotte Sigal, die seit ihrem Auftritt in Joko Winterscheidts “Wer stiehlt mir die Show?” wohl ganz Deutschland ein Begriff ist. Die 27-jährige spielt die Rolle des Mädchens so, wie sie ursprünglich angelegt ist: erstaunlich passiv. Das mag verwirren und für eine Hauptrolle ungewöhnlich sein, trifft aber den Stil. Natalie ist lange nur Projektionsfläche für alle Figuren, auf die sie im Stück trifft. Vor allem natürlich altbekannte Gesichter wie Bambi – etwas zu jung besetzt mit Eike E.A. Onyambu -, Bulettentrude, Lola uvm. – amüsant und mit einem Augenzwinkern gespielt von Katja Hiller- ,Kleister und die Witwen – u.a. gespielt von Jens Mondalski. Oder Herrmann, gespielt in der Original-Interpretation seit der Uraufführung, vom immer noch fantastischen Dietrich Lehmann. Bei diesem Stück jedoch eine einzelne Leistung zu bewerten, wo so viele verschiedene Rollen von vergleichsweise wenigen Menschen interpretiert werden, fällt schwer. Trotz allem bleibt mir einer in Erinnerung. Und das, obwohl er an diesem Abend nicht die Hauptrollen besetzt: Marcel Herrnsdorf spielt sich mit unglaublicher Bühnenpräsenz und konstant passender Interpretation seiner kleinen, aber schönen Rollen wie Mondo oder Johnnie zum Favoriten des Abends. Ich will davon so viel mehr (und ihn als Kleister!) sehen!
Fahr mal wieder U-Bahn, tu dir mal was Gutes an!
Ein abschließendes Fazit zu diesem Stück fällt mir wirklich schwer, weil ich es so gerne spiele und so gerne mag. Aber diese Neuinszenierung war wirklich nicht besonders gut. Es war für ebendiese zu altbacken, zu sehr aus der Zeit gefallen, es braucht heute einfach keine Männer mehr, die Witwen spielen und für diese „skandalöse“ Darstellung vom Publikum gefeiert werden. Kennt man alles, ist im Kontext moderner Inszenierungen längst angekommen. Für mich wurde hier eine Messlatte hochgelegt, aber an keiner Stelle bedient, stattdessen überwiegt das Original und die Theaterrealität von 1980 – retro, einfach ein bisschen too much, gleichzeitig aber auch ein Stück Zeitgeschichte für einen guten Theaterabend. Ich möchte sagen: bleibt einfach beim Ursprung, dann erwartet man keine Moderne. Denn ja, vermutlich hätte eine komplette, auch inhaltliche, Überarbeitung gar nicht funktioniert – das ältere Publikum hätte gestreikt, Natalie ihren Typen bei Tinder gematcht und ihn nach zwei Stationen in der Bahn gegen Hafermilch-Kaffee und einen Hipster eingetauscht. Na ja, immerhin hätte dieser auch im Jahr 2023 Mom-Jeans und Schulterpolster zu Oversize-Prints getragen.
Kurzum: Hat lange funktioniert, kann man immer noch machen, muss man aber nicht.