»Chicago« vom Autorenduo Ebb und Fosse ist in der Urfassung nicht nur ein typisches Nummernmusical der späten 70er, sondern mit seinen Heels und Halterlosen, dem verruchten Jazz und der derben Sprache ein Wagnis im damaligen Showbiz. Was Nische war, ist im heutigen Berlin längst an der Tagesordnung. Umso schwerer, die einstige Anstößigkeit für das heutige Publikum zu übersetzen, und dabei die Spitzen und Leichtigkeit nicht zu verlieren. Die Komische Oper zeigt in der Inszenierung von Barrie Kosky und Otto Pichler jetzt, wie’s geht.
Sitzplatzempfehlung Schillertheater: mittig bis Reihe 10
stimmgewaltig, selbstverliebt, größenwahnsinnig
Das Opening: Ruth Brauer-Kvam als Velma Kelly. All That Jazz. 1600 Glühbirnen auf der pompösen Bühne im Schiller Theater. Rote Federn. Halbnackte Tänzer:innen. Ein voll besetztes Orchester. Gänsehaut. Muss ich mehr sagen?
Brauer-Kvam spielt die verruchte und skrupellose Velma – einstiges Showgirl, inzwischen Dauergast im Frauenknast Chicago – so überzeugend, so stimmgewaltig, absolut selbstverliebt und größenwahnsinnig. Selbiges gilt für ihre Rivalin und eigentlich unschuldige Freundin Roxie Hart, gespielt von Maria-Danaé Bansen, die im Affekt (oder war es doch Absicht?) ihren Lover killt und ihren Glam fortan ebenfalls hinter Gittern fristet. Inmitten von POP, SIX, SQUISH, CICERO und LIPSCHITZ lernt das Publikum schnell die anderen Insassinnen dieses Ortes kennen. Der Cell Block Tango ist nicht nur legendärer Bestandteil einer jeden CHICAGO-Inszenierung, sondern nach dem Opening gleich der nächste Hingucker.
Glitzer, Glam und noch mehr Jazz
Bewundernswert, wie schnell das Ensemble die verschiedenen und extrem anspruchsvollen Jazz- Choreografien von Otto Pichler umsetzt und die Bühne füllt, ohne den Hauptdarsteller:innen die Show zu stehlen. Zugegeben, das ist wirklich schwer, denn Bansen und Brauer-Kvam spielen sich gerade erst warm, brettern im Anschluss einen Song nach dem anderen, treffen die Töne mit Leichtigkeit, spielen mal böse, mal elegant die beiden Frauen, die den Staranwalt Billy Flynn – souverän und schön schmierig gespielt von Nicky Wuchinger – bezirzen, um nicht nur möglichst schnell, sondern auch möglichst fame aus dem Gefängnis herauszukommen. Verhindern könnten das nur die Presse und deren Klatschpäptsin Mary Sunshine – an diesem Tag Hagen Matzeit mit beeindruckendem Counter. Dazu konträr der eingeschüchterte, bidere Amos Hart alias Philipp Meierhöfer, der in all dem Starappeal den anständigen und unschuldigen Gegenpol mimt. Ganz großer Running Gag, ganz große Darstellung, ganz große Pointe. Die Kombi aus all dem kickt, die mutige Inszenierung mit immer ein bisschen mehr Glitzer als man gerade im Publikum vertragen kann und den großen Massenszenen gibt den Rest, die Musik reißt mit – der erste Akt ist in Nullkommanichts vorbei.
Nackte Männer, nackte Frauen, Abschuss
Pause. Wein. Dumme Idee. Jetzt kommen die Längen. Ja, auch die gehören in ein klassisches 70er-Musical mit gefühlt ewigen Hinleitungen, tausenden 11’o’clock-Nummern und wilden Tanzeinlagen. Irgendwann ist die Geschichte gefühlt schon zu Ende erzählt, aber die Tänzer:innen tanzen, Roxie singt immer noch. Vilma holt zum Rückschlag aus. Macht Spaß, muss man aber auch mögen.
Kurz vor dem Finale, ein ernsterer Moment in der Show, als eine Insassin hingerichtet wird. Ihr fehlt das Geld für den Prozess. Zynisch kann die Geschichte nach wahren Begebenheiten definitiv gut. Ja, das alles basiert auf einem wahren Fall, den die Gerichtsreporterin Maurine Dallas Watkins aufschrieb. Ein wichtiger Höhepunkt in der Geschichte, der ganz ohne Glam und Fab funktioniert und zeigt, dass Regisseur Barrie Kosky auch die ruhige Klaviatur des Musicals perfekt beherrscht. Wer die Show kennt, der weiß, dass diese Ruhe doch nur kurz einhält, gleich darauf wieder Revue, noch mehr Jazz, noch mehr Glitzer, noch mehr Hebefiguren, nackte Männer, nackte Frauen, noch mehr Wildes Chicago, noch mehr verruchte Bösartigkeit. Finale. Abschluss. Und Abschuss. Denn ja, diese Frauen auf der Bühne killen nicht nur ihre Männer, sie schaffen auch das Publikum – in jeder Hinsicht. Was für ein Erlebnis, was für eine Inszenierung und so schön, dieses Musical in all seiner Klassik, seinem pointierten Overdress und der Opulenz so auf eine Bühne zu bringen.