Ku’Damm 59 das Musical: Tiefgang, Sinnlichkeit & Halligalli

Eine Musical-Uraufführung ist immer aufregend. Im Theater des Westens wird sie seit einigen Jahren besonders zelebriert. Bereits vor der eigentlichen Premiere gibt es sogenannte Previews. Ähnlich wie am New Yorker Broadway haben ausgewählte Besucher:innen bereits vorab die Chance, Einblicke in die Endproben eines Stückes zu bekommen. Anweisungen vom Regisseur, spontane Szenenänderungen und neue Choreografien und Texte an jedem Abend garantiert. So war es auch bei »Ku’Damm 59«, der Fortsetzung der Bühnenadaption der Erfolgsserie »Ku’Damm 56« aus der Feder von Autorin Annette Hess sowie dem Komponisten-Trio Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Joshua Lange. Theater ist ein Prozess, der auch nach einer Premiere niemals abgeschlossen ist. Und trotzdem kommt nach der Uraufführung unweigerlich die Frage: Was kann diese Show? Ist sie gleichwertig, gar besser als der Vorgänger? Ich war in den letzten Tagen vor Ort und kann euch jetzt schon sagen: Es lohnt sich. Sehr. Willkommen in der Liebmichallee.

Sitzplatzempfehlung:
Für Detailverliebte: Reihe 5/ Platz 1 , ansonsten: Hochparkett Reihe 1/ Platz 1

Könnt’ ich dich in den Schlaf singen, erzählt ich dir von einer unmöglichen Frau

Berlin, 1959. Deutschland im Wirtschaftswunder, Heimatfilme auf dem Höhepunkt, Frigidität und Misogynie nach wie vor an der Tagesordnung. Und mittendrin Tanzschulbetreiberin Caterina Schöllack mit ihren drei Töchtern. Helga, die schweigende Ehefrau des Staatsanwalts Wolfgang, der seine homosexuellen Ausflüge in den Volkspark längst nicht mehr vor ihr verbirgt. Monika, die mit ihrem Tanzpartner Freddy vor der Kamera der bekannten Regisseurin Christa Moser Karriere macht und hofft, so auch als unverheiratete Frau ihre Tochter Dorlie regelmäßig sehen zu können. Und Eva, Ehefrau eines bekannten Psychiaters, die sich nur einen Orgasmus sehnlicher wünscht als den Führerschein.

Und selbst die Ziegen sind so gut gelaunt, im Hotel am Wolfgangsee.

© Theater des Westens

»Ku’Damm 59« bietet  noch mehr Potenzial und Komödie für eine Musicaladaption als sein Vorgänger. Choreograf Jonathan Huor hat gerade im ersten Akt gut zu tun. Choreografisch kann diese Show richtig viel und gerade die Heimatfilm-Szenen geben ordentlich was her. Das sind verdammt unterhaltsame Musicalbilder geworden. Während Regisseur Christoph Drewitz wieder einmal zeigt, wie treffend und schnell eine Inszenierung sein muss, wenn die dazugehörigen Texte von Annette Hess kein Wort zu viel verlieren. Kennende der ersten Show dürfen sich außerdem auf ein paar Anspielungen, schöne Parallelen in den Inszenierungen, magische Theatermomente und die eindeutige Handschrift des Kreativteams freuen. Langweilig wird es in diesem Stück zu keiner Sekunde.

Im Gegenteil, die Aufmerksamkeit der Zuschauenden wird an allen Ecken gefordert. Sei es beim Offensichtlichen, dem passiven Schauspiel im Hintergrund, einem perfekt platzierten Black, bunten Kostümen oder der fulminanten Kulisse. Gerade diese nimmt am Anfang viel Raum ein – im wahrsten Sinne: Der Blick geht in den nackten Theaterraum mit Scheinwerfern; Hinterbühne ade. Erinnert vom Look an ein altes UFA-Filmstudio mit fahrbaren Elementen und sorgt für ordentlich Bewegung und einen Hingucker auf der Bühne. 

Für das bisschen Liebe kauf ich mir ’n Chaiselongue

Das Ensemble pendelt also irgendwo zwischen den Aufgaben eines Bühnentechnikers, vielen Umzügen und anspruchsvollsten Choreografien und Sätzen zu den Liedern von Plate und Sommer. Mein größter Respekt gilt in diesen Shows allen Tanzenden und Ensembledarstellenden; ihr macht einen unfassbaren Job. 

Unfassbar ist auch der restliche Cast. Und vor allem: stimmgewaltig. Da ist Hauptdarstellerin Celina Dos Santos mit starker Rockröhre und ebenso starkem Schauspiel. Ihre Monika ist schlagfertig, energetisch und ein Charakter, in den ich mich jedes Mal aufs Neue verliebe. An ihrer Seite ihre Schwester Helga, gespielt von Pamina Lenn, die in der ersten Hälfte leider etwas zu kurz kommt, den Zynismus ihrer Rolle aber mit Bravour im zweiten Teil besingt. Und natürlich Eva, die auch dieses Mal von Isabel Waltsgott mit viel Szenenapplaus gemimt wird. Sie ist für mich die perfekte Eva – zunächst unschuldig, später sinnlich, zuletzt erotisch performt (oder müsste man sagen: strippt?) sie mit perfektem Belt zu ihrem Höhepunkt in »Honig«. Bravo, bravo, bravo, ich liebe alles an dieser Emanzipation.

© sunstroem

Impotent ist mein zweiter Vorname. Freddy Impotent Donath!

Und auch die Männer der drei Protagonistinnen können sich blicken lassen. Freddy, gespielt von Mathias Reiser, wieder der komödiantische Frauenheld aber dieses Mal mit mehr Tiefgang als je zuvor und »Requiem« als berührendes Highlight im zweiten Akt. Leider funktioniert seine Rolle oft auf Stichwort, ich hätte mir noch mehr Momente nur von ihm gewünscht. Joachim Franck als ehemaliger Geliebter von Monika, konsequent fortgeführt und schön melancholisch gespielt von David Nádwornik. Und natürlich Philipp Nowicki (endlich!) in der Erstbesetzung des Wolfgang von Boost. Seine Zerrissenheit mündet, wie auch in der Serienvorlage, in der tiefen Liebe »nach drüben«. An der Grenze lernt er den Anwalt Hans Liebknecht, charmant gespielt von Alexander Auler, kennen. Die beiden teilen bald mehr als nur ihren Beruf und rührten mich in ihrem Duett zu Tränen. Plate und Sommer machen queere Menschen in Musicals sichtbar und geben diesen Geschichten endlich eine Bühne. Danke dafür und für diese Performance. 

Und die Puppen schwing’ die Beine, mal die andere, mal die eine

Und dann sind da noch Katja Uhlig und Steffi Irmen als Caterina »Mutti« Schöllack und Regisseurin Christa Moser. Zunächst: Was für eine geniale Kombination zweier absolut großartiger Darstellerinnen mit ihren einmaligen Stimmen. Ich hatte so oft einfach nur Gänsehaut. Irmen verkörpert die Rolle der abgebrühten Showgeschäftigen schön schwarzhumorig und führt gerade zu Beginn durch die Szenen. Mir persönlich gibt sie jedoch an einigen Stellen etwas zu viel von sich selbst. Die Zuschauenden kennen sie bereits aus vorangegangenen Inszenierungen, zuletzt ihrer eigenen Soloshow im selben Theater. Nun bekommt sie die Chance auf eine (auch in der Serie) braun geprägte, nationalsozialistische Rolle mit Ernsthaftigkeit – völlig abseits von ihrem bisherigen Repertoire.

[der nachfolgende Absatz enthält Spoiler!]

 

Diese kommt durchaus auch erschreckend bissig durch, wird aber im späteren Verlauf und gerade im Zusammenspiel mit Caterina für meine Begriffe nicht konsequent genug verfolgt. Selbiges gilt für Frau Schöllack selbst, die als zugeknöpfte Mutti für Anstand und Sitte sorgt, dies auch immer wieder betont, plötzlich aber mit einer Frau flirtet. [Anm. d. Red.: In der Verfilmung ist Christa Moser ein Kurt Moser.] Ich verstehe die Extravaganz und den hedonistischen Gedanken der letzten großen Szene der beiden. Ich verstehe den Mut für neue Rollenperspektiven. Ich bin aber auch Fan von konsequenten und ehrlichen Inszenierungen. Der intensive Kuss als Abschluss dieser beiden Frauenrollen passt für mich nicht. Vor allem nicht zu einer lange als heteronormativ eingeführten Figur, wie Caterina Schöllack. Ebenso wenig passend, dass die Zuschauenden im Abspiel von Moser für einen feministischen Satz von ihr applaudieren. Das fühlt sich nach einem Duett der beiden mit dem Titel »Speer und Riefenstahl« trotz aller Andeutungen zu plötzlich an. So schön ich das Bild zweier küssender Frauen für sich in einem Theater finde, es ist mir an der Stelle zu gewollt. 

 

[Weil es mir wichtig ist zu betonen: Die Entscheidung für die Interpretation einer Rolle kommt nicht von den Darstellerinnen selbst. Ich bin wirklich daran interessiert, den Gedanken hinter dieser Szene zu verstehen und freue mich immer über Erklärungen und andere Interpretationen.]

Das ist unser Haus in der Liebmichallee

Nichtsdestotrotz: Das Stück ist und bleibt ein moderner und berührender Blick auf die Zeit in Berlin um 1959. Das alles gespickt mit eindrucksvollen Szenenbildern, bunten Choreografien, starker Musik und einem Cast, der sich wirklich nicht verstecken muss. Was im ersten Akt zeitweise zur Komödie zu kippen droht, fängt sich dann immer wieder in großen Balladen und schönen Stimmungen selbst ein und funktioniert als Fortsetzung ebenso gut wie als eigenständiges Musical. Ich empfehle trotzdem einen kurzen Blick auf die Handlung, einfach für ein besseres Verständnis.

Das Theater des Westens konnte sich in den letzten Jahren in Berlin als Musicalstätte neu erfinden und setzt mit mutigen Inszenierungen ein Statement für Theater mit Haltung und ganz viel Herz. Man kann das nicht nicht mögen. Mich macht es sehr glücklich.

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