»Zirkus kann mehr!« – Interview mit Artistin Zirkus-Lea

Moulin Rouge, Monte Caro & Mecklenburg Vorpommern

»Kaffee schwarz oder mit Milch?«, schreibt mir Lea bei Instagram. Ich stehe gerade an der Abendkasse der Schlossfestspiele Neustrelitz und winke ihr zu. »Milch, bitte.« Ein kurzes Lächeln, eine Umarmung – und schon plaudert Lea locker mit der Verkäuferin in der kleinen Holzhütte. »Es ist irgendwie alles besonders, weil wir schon die letzte Vorstellung spielen«, sagt sie zu mir.

Wir suchen uns einen gemütlichen Platz am Eingang. Noch knapp eine Stunde hat sie, bevor das Warm-up beginnt. Normalerweise tritt Lea in den größten Häusern der Welt auf: Cirque du Soleil, Zirkus Monte Carlo, Moulin Rouge in Paris. Mit ihrem Partner Francis oder im Solo zeigt sie eine Cyr-Rad-Kür – ein riesiges Metallrad, in dem sie atemberaubende Tricks und viele Emotionen zeigt. Diesen Sommer aber verbringt sie nicht in Sidney oder Moskau, sondern in Neustrelitz, Mecklenburg Vorpommern.

»Ich dachte, ich höre nicht richtig«, sage ich. Denn erst vor ein paar Monaten hatte Lea ihr Engagement hier bei den Schlossgartenfestspielen mit einer halben Million Menschen auf TikTok geteilt. »Ja, für mich kam das auch überraschend«, lacht sie, »aber ich mag es sehr, den Sommer hier zu verbringen.«

Die Idee, Lea zu kontaktieren, kam mir ehrlich gesagt erst ein paar Tage vor der letzten Vorstellung der Operette Die Zirkusprinzessin, in der sie als Gast auftritt. Ich hätte fast nicht damit gerechnet, dass sie überhaupt antwortet. Aber jetzt sitzen wir hier, mitten im Schlossgarten Neustrelitz – und reden über die Zirkuswelt und Zirkus Lea, über Social Media, intime Momente, Körperwahrnehmung. Und darüber, warum ein Popsong manchmal mehr bewirken kann als große Kunst.

»Ich mache einen Popsong, aber mit Gefühl.«

Du warst in Montreal, im Moulin Rouge in Paris, auf Welttour mit dem Cirque du Soleil. Jetzt bist du in Neustrelitz, Mecklenburg-Vorpommern, auf einer vergleichsweise kleinen Operetten-Bühne. Wie geht es dir damit? Ist es anders für dich? 

Ich finde es gar nicht anders. Wenn man auf der Bühne steht, zählt der Moment. Dann ist es egal, wie viele Leute vor mir sitzen. Es ist sogar fast intimer, wenn man die Menschen sehen kann und es nicht so viele sind. Vor 20.000 Menschen ist es so eine Masse und man spürt die Leute gar nicht.
Ein großer Unterschied ist aber die Stadt, es ist ja richtig klein hier. Ich muss mich also anders organisieren – einkaufen und mein Essen anders planen, weil ich nicht überall was bekomme. Das ist deutlich anders als in anderen Produktionen bisher. Auf der anderen Seite ist es spannend. Dadurch, dass ich als »Star« eingeladen bin, waren alle hier in der Show oder haben davon gehört. Es hat ein, zwei Wochen gedauert und alle kennen mich. Das ist ein tolles Gefühl, weil auch alle sehr lieb sind. 

Zirkuslea
© Liz Heinrichs

Lea Toran Jenner

Lea ist eine professionelle Zirkusartistin die sich auf das Cyr Rad und den akrobatischen Kronleuchter spezialisiert hat. Seit 2014 ist sie auf den größten internationalen Bühnen der Welt zu sehen. Zu ihren erfolgreichsten Engagements gehört das Moulin Rouge in Paris und das Sydney Opera House in Australien.

Dein Lebenslauf liest sich wie eine internationale Erfolgsstory: Studium an der besten Zirkusschule der Welt, Welttournee, Cirque du Soleil, Moulin Rouge, Monte Carlo, im letzten Jahr bist du Weltmeisterin geworden. Was waren die kleinen Entscheidungen, die dich dorthin gebracht haben?

 

Im Lebenslauf liest man natürlich immer nur die großen Sachen, da ist total viel dazwischen, was nicht so riesig ist. Es sind immer kleine Entscheidungen gewesen. Die erste ist, die Zirkusschule in Montreal gewählt zu haben. Es gibt auch in Deutschland Schulen, aber diese sind keine weiterführenden Schulen und dementsprechend limitiert. Ich wollte es an der besten Schule wenigstens versuchen. Diesen Schritt hätten mit neunzehn Jahren vielleicht nicht alle gemacht – anderes Land, neuer Kontinent, andere Sprache, eine neue Dynamik. Ich komme von meinem ganz normalen Abitur und meiner Sportaerobic in Deutschland. Und dann zu sagen, ich mache eine Ausbildung in Montreal zur professionellen Artistin, das war eine sehr wichtige Entscheidung. Aber auch die Disziplin, die ich gewählt habe. Leute sagen immer, dass die Disziplin einen findet. Und als ich Cyr-Rad ausprobiert habe, wusste ich, ich habe es gefunden. Ich hatte ein Alleinstellungsmerkmal, weil das damals auch nicht viele Frauen gemacht haben. Und dann habe ich noch als Duo angefangen, das hatte damals noch gar niemand gemacht. Es war also eine doppelte Nische, die mich gefunden hat. Ich habe aber auch immer einfach gemacht, was Spaß macht. Ich hatte auch einfach keine Angst, Dinge auszuprobieren. Die Schule allerdings war sehr Akrobatik-fokussiert und künstlerisch. 

Also sportlicher?

Jein. Es war vor allem sehr artsy. Im Schauspiel gibt es Klassiker, die man als Laie nicht versteht, aber die große Kunst sind. So ist es auch im Zirkus. Das ist das, was moderne Schulen oft von einem erwarten. Aber es verstehen nicht so viele und entsprechend gibt es dafür auch nicht so das Publikum. Zirkus ist immer noch nicht so richtig subventioniert. Zirkusse, die erfolgreich sind, sind sehr entertainment und mit viel Publikum. Wenn du mit dem Anspruch rangehst, die große Kunst zu machen, wirst du sie nicht oder schwerer verkaufen. Das ist schwierig, weil man natürlich mehr möchte als reines Entertainment. Man möchte nicht nur einen Popsong, sondern einen mit Gefühlen. Ich habe mich trotzdem entschieden, einen Popsong zu machen, aber mit Gefühl. 

© Arne Claussen

»Ich möchte meinen Anspruch wahren.«

Also auch viel Strategie, um eine erfolgreiche Karriere aufzubauen? 

Manches schon, ja. Mit dem Duo haben wir uns bewusst für eine Liebesgeschichte entschieden. In Montreal war das total verpönt, weil man es schon so oft gesehen hat. Aber es ist eben das, was die Leute sehen wollen, deshalb haben wir es gemacht. Es hat aber auch zu uns gepasst, wir konnten es auf unserer eigenen Freundschaft aufbauen. Wir sind uns sehr nahe und es war dadurch echt, sowas kannst du auf der Bühne nicht faken. Das war schon strategisch, dass wir da unseren Weg gegangen sind und auch bewusst nicht den der Schule. Dort wird man sehr getrichtert und wir sind bewusst dagegen geschwommen. Hätten wir diese Entscheidung einige Jahre später getroffen, hätte es sich aber auch ganz anders entwickeln können. Ich sage nicht, dass man nicht auch Dinge machen kann, die artistischer und künstlerischer sind, aber dann ist die Nische eine andere, eher Festivals und subventionierte Aufträge. 

Lass uns mal bei Montreal bleiben. Ich habe deinen Podcast bei Voices of Athletes gehört. Du beschreibst dort deinen Weg als Artistin. Was war für dich der größte Unterschied zwischen der Turnhalle in Deutschland und der Zirkusschule in Kanada?

Ich hatte schon ein paar Summer-Camps in Kanada gemacht und wusste ungefähr, wie es abläuft, aber das war nur ein Bruchteil. Am Schönsten war, dass ich den ganzen Tag trainieren konnte und  nicht erst nach dem Schulunterricht. Wir hatten aber auch Stundenpläne mit unterschiedlichen Fächern. Anfangs war alles toll – Jonglage, Akrobatik, … Nach und  nach habe ich dann gemerkt, dass man ausgebildet wird, um Shows zu spielen. Manches war dann unangenehmer. Schauspielunterricht in einer anderen Sprache beispielsweise. 

Ist das jetzt ein Full-Circle-Moment, dass du auch als Schauspielerin auf der Bühne stehst? 

Ja, irgendwie schon. Ich war zwischenzeitlich nochmal auf einer Schauspielschule in Frankreich, als ich dort längere Zeit war. Aber ich hatte einen deutschen Akzent und konnte deshalb nur Rollen spielen, die auch so einen Akzent haben. Vor allem habe ich aber gemerkt, dass Schauspieler:innen wirklich dafür brennen. Ich hatte aber schon eine andere Sache, für die ich gebrannt habe. Da habe ich dann gemerkt, dass ich Schauspiel cool finde, aber es nicht so richtig will. Viele wollten viel mehr als ich. Deshalb mag ich, dass ich jetzt eine Operette gemacht habe und auch einen kleinen Sprechtext hatte. Ich habe mich selbst gespielt und war sehr frei, ohne Druck. Wenn ich aber irgendwo gebucht werde, dann nicht, weil ich die beste Schauspielerin der Welt bin. Natürlich würde ich gerne auch mal eine Serienrolle spielen oder so, aber immer in Kombination mit Zirkus. Die Regisseurin hier meinte auch, dass ich das auf jeden Fall in meinen Lebenslauf schreiben soll. Als Sprechrolle bei Festspielen zu sein, ist wohl voll die große Sache (lacht).  

Francis, mein Bühnenpartner zum Beispiel, hasst es aber auch, auf der Bühne zu reden. Das wäre für ihn das allerschlimmste auf der Welt. Es ist eben auch nicht der eigentliche Job. 

Francis hast du in Montreal kennengelernt und ihr habt während der Ausbildung auch eure erste Duo-Nummer entwickelt. Inzwischen werdet ihr häufig als Duo gebucht, zum Beispiel im Moulin Rouge oder auch beim Zirkusfestival in Monte Carlo. War die Zusammenarbeit mit ihm der Moment, wo du gemerkt hast, dass du auch gerne inszenierst? 

Ja. Ich hatte das aber schon immer. Artistik ist mehr als auf der Bühne zu stehen. Ich mag alle Varianten. Hier in der Operette ist alles vorgegeben und ich gebe die Verantwortung für die Sprechrolle ab. Die Nummer ist aber meine. Meine Kostüme, meine Musik, meine Inszenierung, meine Tricks. Das ist auch ein tolles Gefühl. Und ich kann meinen Anspruch wahren.  

Zirkuslea Cyrrad
© Marlena Kirsche

»Der traditionelle Zirkus ist nicht schlecht, ganz im Gegenteil. Es gibt viel, was ich an ihm liebe, aber ich mache eine andere Art von Zirkus. «

Du sagst, du bist moderne Zirkusartistin. Wie definierst du das?

Ich setze es gegensätzlich zur traditionellen Artistin. Die sind normalerweise reingeboren. Der größte Unterschied ist, dass du keine vierte Wand hast. Traditionelle Artisten spielen mit dem Publikum, sie kommen rein und suchen sofort den Kontakt zum Publikum. Man betrachtet sie nicht von außen, sondern sie interagieren bewusst mit den Zuschauenden. Meistens gibt es auch keine zweite Ebene, es ist oft nur ein blinkendes Kostüm und eine sexy Show. Der traditionelle Zirkus ist nicht schlecht, ganz im Gegenteil. Es gibt viel, was ich an ihm liebe, aber ich mache eine andere Art von Zirkus. 

Moderner Zirkus will eine Geschichte erzählen – Beziehungen zueinander, mehr Interpretation und Geschichte. Es gibt auch Kontakt zum Publikum. Dieser wird aber bewusst gesucht, das wirst du auch in meiner Nummer sehen. Es gibt Momente, da wird gewollt, aber nicht verlangt, dass die Leute klatschen. Der traditionelle Zirkus hat auch Tiere oder hatte sie. Moderner Zirkus nie. 

 

Wären Tiere für dich ein Ausschlusskriterium? 

Ja und Nein. Ich persönlich würde nicht mit ihnen eine Nummer machen. Ich hatte aber schon Produktionen, wo es Tiere gab. Da ich aber einen harten Boden brauche, kommen Tiere bei mir extrem selten vor. Ich habe es für die Erfahrung gemacht, weil es auch lange Zeit dazugehört hat und eine lange Tradition hat. Es ist immer die Frage, inwiefern das noch artgerecht ist. Ich glaube, es passt heute nicht mehr in die Zeit. 

Ich habe aber interessante Erfahrungen gemacht, zum Beispiel in Russland mit Bären. Das war alles, aber nicht artgerecht und auch richtig traurig. Aber letztes Jahr war ich im Weihnachtszirkus in einer Produktion mit Pferden. Und die Tiere hatten die besten Konditionen, denen ging es total gut. Auch da gab es viel Kritik bei Social Media und das habe ich nicht so ganz verstanden. Ich finde die Kultur mit Tieren nicht supertoll, aber wenn es richtig gemacht ist, würde ich es nicht ablehnen. In vielen europäischen Ländern sind Tiere aber auch schon verboten, in Deutschland ist es eine Frage der Zeit. 

Du hast gesagt, dass du eine der ersten Frauen warst, die Cyr-Rad gemacht hat, dann auch noch im Duo. Waren das Momente, wo du bewusst Konventionen gebrochen hast? 

Im Moment sind es zwei Dinge: Einen Stil finden und technisch richtig gut sein. Mit guter Technik und schwierigen Tricks bist du gut, da kannst du auch nicht schummeln. Das ist die Schiene, die ich fahre. Mit meinem Stil bin ich sehr zufrieden, technisch möchte ich noch besser werden. Ich bin jetzt auf dem Level, wo ich Tricks erfinden kann. Insofern breche ich schon Konventionen, weil ich eben dran bleibe.

Stimmt, du hast von deinem erfundenen Trick in deiner Instagram-Story erzählt.

Ja, ich arbeite an einem Trick, wo man im Rad mit dem Kopf einen Fuß im Spagat berührt. Das kann ich noch nicht richtig gut, möchte es aber als Trick etablieren. und das macht großen Spaß, weil man sich weiter pushen kann. Die Frauen, die ursprünglich die ersten und besten Frauen waren, haben irgendwann aufgehört zu lernen. Sie können heute Tricks, die viele können. Sie haben immer noch einen bestimmten Stil und werden dafür gebucht, aber ich möchte noch mehr Anspruch an mich haben. 

© Jörg Metzner

»Wir waren in Monte-Carlo wie der Indie-Film bei den Oscars.«

Du bist kürzlich auch Weltmeisterin im Sport Cyr-Rad geworden. Dafür hast du extrem viel nach deinen Shows im Moulin Rouge trainiert. Da habe ich mich während deiner Videos gefragt, ob du als Artistin und professionelle Cyr-Rad-Künstlerin nicht eigentlich alle Tricks können müsstest.

Ich glaube, dafür gibt es verschiedene Gründe. Die Zirkusschule ist wie eine Musikschule, in der man verschiedene Fächer hat. Ich habe dort alles gelernt – Karriere Management, Physio, Anatomie und vieles mehr. Es ist aber keine Cyr-Schule und auch nicht alle Trainer sind auf meine Disziplin spezialisiert. Das Zentrum für den Sport liegt heute bei Hauke [Hauke Narten, Leas Cyr-Rad-Trainier] in Fallersleben. Der hat zur gleichen Zeit angefangen wie ich. Er hat aber zehn Jahre trainiert und nicht drei wie ich. Einige kamen vom Rhönrad und haben viele Tricks davon benutzt. Sie konzentrieren sich nur auf eine Sache. Dadurch kann es passieren, dass Leute technisch viel besser sind, aber die anderen Basics nicht haben – Füße strecken, Spagat. Das muss man ja auch lange Zeit trainieren. Dafür habe ich zur Weltmeisterschaft auch viel mit Hauke trainiert.

Was ich aber auch nicht zeige: Ich trainiere manchmal mit Hauke. Neunzig Prozent der Zeit übe ich aber alleine. Ich verstehe es eher als Community. Wir treffen uns, wir spielen und dann geht jeder seinen Weg. Und ich helfe Hauke auch, indem ich Dinge beobachte oder ihm Hinweise gebe. Das müsste ich vielleicht mal mehr zeigen. 

Wie ist die jetzige Solo-Show zu den Schlossfestspielen Neustrelitz entstanden?

Die Basis ist meine erste Solo-Show. Nach der WM hatte ich aber Lust, die Nummer etwas technischer zu machen. Ich habe meine Musik genommen, sie etwas verlängert. Ein Profi hat dann neue Musik darauf komponiert. Die Nummer habe ich dann auch hier vor Ort in Neustrelitz noch entwickelt. Zum Beispiel habe ich die Reaktionen des Publikums beobachtet und einiges angepasst. Manchmal entscheide ich aber auch tagesformabhängig, dass ich einen Trick streiche oder nicht zeige. Die Nummer ist noch nicht ganz da, wo ich sie gerne hätte, aber es ist dafür ja live. Es ist kein Kinofilm, sondern ich kann jeden Tag etwas verändern. Das ist mir auch wichtig. Die Nummer möchte ich dann auch international anbieten. 

Was war für dich der emotionalste Moment auf der Bühne? 

[Sind Sie Zirkus-Lea? Können wir ein Foto machen? Lea macht ein Foto mit einer Besucherin.]

Ähm … Und da wurde sie unterbrochen (lacht).
Es gibt viele Momente. Nach der Pandemie habe ich Cirque du Soleil gemacht und wir standen in London in der Royal Albert Hall. Das war sehr besonders. Aber auch die letzte Show im Cirque du Soleil. Große und wichtige Shows und Festivals wie Monte Carlo. Manchmal hat man aber auch einen Flirt und die Person ist da oder die Eltern und Familie sitzen im Publikum. Das ist immer besonders. 

Du hast gerade gesagt, dass deine Show tagesformabhängig ist. Was machst du, wenn du einen schlechten Tag hast? Im Moulin Rouge beispielsweise hast du zwölf Shows pro Woche an sechs Tagen gespielt. 

Ja, voll nervig, zum Beispiel wenn man seine Tage hat. Ibuprofen regelt die Schmerzen, die sich bei mir zum Glück eh in Grenzen halten. Wenn ich auf der Bühne stehe, geht es immer. Nervig finde ich dann eher alles davor – aufwärmen, schminken. Da helfen mir Routinen. Die Show ist sehr physisch, ich muss also jeden Tag körperlich da sein und sehr präsent sein. Es sind aber auch immer nur fünf bis sechs Minuten. Und die Präsenz, die fast noch wichtiger ist, hole ich mir von den Leuten, die mir ganz viel zurückgeben. Allein wenn ich weiß, dass jemand extra für mich gekommen ist, motiviert mich das sehr. 

Hier sitzen auch viele junge Menschen, die nur für dich kommen. 

Ja, die meisten bringen dann ihre Eltern mit, das ist auch richtig cool. Ich habe hier jeden Abend viele Fans von TikTok und Instagram getroffen. 

In diesem Jahr warst du bei Monte Carlo eingeladen, das ist ein einmaliges Festival für deine Karriere als Artistin. Wie war das?

Sehr cool. Die traditionelle Szene hat uns als moderne Artisten dort aufgenommen. Die sind ja noch richtig oldschool mit Elefanten, Giraffen und so. Es ist sehr selten, dass man als Solo oder Duo kommt, meist sind es große Acts und Familien, die dort als beste der Welt geehrt werden. und die Tiere sind dort sehr wichtig, obwohl man in Frankreich keine Tiere mehr haben darf. Monte Carlo ist ja in Frankreich, nicht Frankreich, aber eben dort. Das ist auch voll kompliziert, die Tiere dort hinzubekommen. Aber jeder, der da ist, ist eingeladen und hat einen Grund dafür. Es ist ein bisschen wie bei den Oscars, wo wir der Indie-Film waren. 

© Leandro Segura

»Zirkus ist ein super Date!«

Das wirkt ein bisschen wie eine fremde Welt. 

Ich glaube, deshalb funktioniert Social Media bei mir auch so gut, weil es so wenige Berührungspunkte für viele gibt. Dabei lebe ich eine sehr moderne Version von Zirkus mit Koffern und Hotelzimmern. Ich muss nicht morgens um sechs aus meinem Wohnwagen kriechen und die Pferde füttern. Und trotzdem haben viele die Idee, dass Zirkus shady und dreckig ist, billig und für Kinder. Das gibt es noch irgendwo auf einem Dorf, aber große Zirkusse wie Roncalli in Deutschland sind alles, aber nicht shady, sondern richtig cool. Es ist für alle – ältere Menschen, Familien. Es ist auch eine super Date-Idee, Zirkus ist ein super Date! (lacht)

Vor einigen Jahren habe ich Paramour gesehen, ein Musical zusammen mit dem Cirque du Soleil. Das hat mich damals wahnsinnig beeindruckt. 

Ja. Auch dort hat die Verbindung mit Musik und Emotionen hervorragend funktioniert. 

Social Media nutzt du auch, um dich als Artistin zu zeigen. Gibt es da für dich Grenzen?

(lacht) Ich glaube, sie verwischen etwas. Also doch, es gibt noch Grenzen. Ich zeige meinen Bruder, meine Eltern nicht. Ich sage nicht, ob ich in einer Beziehung bin, das kann man sich denken oder auch nicht. Ich würde es ändern, wenn ich heirate oder Kinder kriege, dann würde ich darüber sprechen. Aber Beziehungen im Zirkus sind einfach schwierig, weil man eben ständig weg ist. 

Deshalb denken vermutlich auch so viele, dass du mit deinem Duo-Partner zusammen bist. 

Ja und ich verstehe das auch. Für viele ist es komisch, dass wir eine Liebesbeziehung spielen, zusammen coole Sachen erleben und reisen. Aber es gibt so viele Gründe, nicht mit jemandem zusammen zu sein. Nur, weil man toll zusammen aussieht, heißt es nicht, dass wir ein toller Match wären. Aber beruflich bin ich ansonsten total transparent, das möchte ich alles teilen. 

Und dann gibt es noch Themen, die irgendwie intim sind, aber auch nicht zu privat. Zum Beispiel, wenn ich über meine Periode spreche. Nahezu jede Frau hat(te) ihre Tage, wieso sollte ich nicht darüber sprechen? Inzwischen gibt es ja auch viel Content dazu. Es ist ein Thema und spannend für viele. Das ist ja auch nicht spezifisch für mich. Ich habe auch mal ein Video zu Intim-Waxing gemacht, weil es erklärt, was man auf der Bühne macht. 

Hast du manchmal Zweifel an deiner Präsenz? 

Nein. Es war die beste Entscheidung. Mich stören auch die schwankenden Zahlen nicht, weil es keine Pflicht für mich ist.Ich gebe aber auch viel im realen Leben zurück, es ist toll, die Menschen dann auch wirklich zu treffen. Ich weiß auch, ich könnte jederzeit aufhören. Was ich eher gefährlich finde ist, dass ich vergesse, was ich alles teile, Ich habe ein bisschen Angst, dass es irgendwann kippt. Man gönnt von außen bis zu einem gewissen Punkt und irgendwann ist jemand ganz oben und dann gibt es einen Shitstorm. Davor habe ich ein bisschen Sorge. Oder dass ich mal so viel teile, dass sich das negativ auswirkt; ich einen Stalker kriege oder so. Das ist nur eine Frage der Zeit und Größe, bis sowas passiert. 

© Arne Claussen

»Ich kann als Frau auch stark und muskulös sein.«

Bei Blackroll hast du mal über deine Körperwahrnehmung gesprochen. Dass du dich mit deinen breiten Schultern gar nicht so selbstbewusst gefühlt hast. Du hast damals gesagt, dass du gar nicht die typisch-sexy Artistin sein möchtest? Was sind dahingehend Dinge, die du in der Branche verändern möchtest?

Wow, da hast du gut recherchiert, das ist schon länger her (lacht). 

Ob ich etwas verändern möchte – ich glaube, dafür bin ich die falsche Person. Zirkus hat sich sehr verändert und mittlerweile hat wirklich alles einen Platz und es ist sehr offen und vielfältig geworden. Man muss aber auch was daraus machen. Es gibt zum Beispiel den Hoola-Hoop-Artisten, der sehr beeindruckend ist, aber eben nicht der klassischen Zirkusartisten-Norm entspricht. 

Ich glaube, was ich eher machen kann ist, dass ich mich in der Gesellschaft in meinem Körper wohlfühle und zeige, dass Frauen auch stark und muskulös sein können. Es gibt Zirkusschulen und Zirkusse, die sehr spezifisch casten. 

Wie auch in jeder Schauspiel- oder Tanzschule. 

Genau. Das Gesicht zählt, da kann man auch nicht so viel machen. Aber Pretty Privilege ist generell ein Ding – bei der Passkontrolle, als Manager. Manager sind fast immer groß. Man kann nur sein und richtig gut sein in dem, was man macht. Und damit kann man die Ausnahme machen. Wenn ich aber als großer und erfolgreicher Manager sage, dass ich möchte, dass es auch mehr kleine Manager gibt, funktioniert das nicht. So sehe ich das bei mir auch. Ich bin als Akrobatin zwar groß und auch als Frau auf der Bühne. Aber es ist kein Handicap und ich bin auch nicht selten groß. ich gehöre schon sehr in den Stereotyp. 

Ob Körperwahrnehmungen sich im Zirkus so sehr geändert haben, kann ich dir gar nicht sagen. Ich glaube eher, dass sich mit meinem Alter und Erfolg aber verändert hat, wie ich mich wahrnehme und da selbstbewusster geworden bin. 

Du darfst der Zirkuswelt eine Botschaft mitgeben, welche wäre das?

Der Zirkus kann mehr, als man ihm zutraut. Man kann Zirkus mit so vielen Mischformen verbinden – Musical, Werbeclips, Fashionweek. Man darf ihn aus der Nische rausziehen und mehr in den Fokus rücken. 

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