CABARET das Musical: erotische Sehnsucht & politisches Fernweh

CABARET das Musical in Berlin: erotische Sehnsucht & politisches Fernweh

Diese 20. Spielzeit des Musical-Klassikers, der 2004 erstmals auf Deutsch in Berlin aufgeführt wurde, hält den Rekord für die am längsten gespielte »Cabaret«-Inszenierung. Damals noch in der Bar jeder Vernunft, bleibt das Motto: klein, fein, mit Liebe zum Detail. Zum Jubiläum kehren die ursprünglichen Kulissen ins Tipi am Kanzleramt zurück, und das Publikum kann sich auch 2024 auf nostalgische Momente mit der kleinen Eisenbahn und dem Glitzervorhang freuen. Inszenierung und Choreografie stammen von Michael-Jackson-Choreograf Vincent Paterson. Basierend auf dem Buch von Joe Masterhoff und der Musik von John Kander ist die Uraufführung zwar bald sechzig Jahre her, das Stück aber keinen Tag gealtert. Oder wie zur Premiere treffend formuliert: »Wir werden das Stück so lange spielen, bis es jede Aktualität verloren hat!«

Sitzplatzempfehlung: Tisch Mtte PK 1

Die verführerische Dekadenz der Nichtsahnenden

Berlin, 1929: Der amerikanische Autor Clifford Bradshaw kommt kurz vor Silvester in die Stadt, und mietet sich am Nollendorfplatz in die Pension von Fräulein Schneider ein. Den Jahreswechsel verbringt er auf Anraten seiner Reisebekanntschaft Ernst Ludwig im berühmt-verruchten Kit Kat Klub. Zwischen erotischer Sehnsucht und politischem Fernweh kündigt der Conférencier des Klubs die englische Nachtclubsängerin Sally Bowles an. Clifford und Sally lernen sich schnell kennen und lieben. Schon einen Tag später ziehen sie zusammen zu Fräulein Schneider. Auch diese ist im Liebesglück mit dem jüdischen Obsthändler Herr Schultz. Doch der Faschismus kommt und nicht mal der provokanteste Zynismus im schillernden Nachtklub kann diesem Einhalt gebieten.

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© Barbara Braun

Eines fällt mir in jeder »Cabaret«-Inszenierung auf: Je ulkiger die Show im ersten Akt ist, desto größer wirkt der Schrecken im zweiten. Zu Beginn stehen die Zeichen vor allem auf einem klassischen Golden-Age-Musical. Viel Glamour, noch mehr Sexappeal, ein Hauch von Übertreibung. Conférencier des Abends ist Mathias Schlung, der das Publikum natürlich mit »Willkommen, Bienvenue, Welcome« begrüßt. Von Beginn an ist er als Kommentator präsent und steht vor allem für die verführerische Dekadenz der Nichtsahnenden. Das alles wird von Schlung schön provokativ auf den Punkt gespielt und immer wieder in Cabaret-typischen Solonummern wie “Two Ladies” oder “Money” unterstrichen. Hab’s geliebt. An seiner Seite natürlich verführerisch wie eh und je die Kit Kat Girls Helga, Mausi, Lulu und Frenchie. Sie sind das Herz des Klubs und ihre Ensemble-Choreos vom Publikum aus eine Freude.

Willkommen, Bienvenue, Welcome!

Autor Clifford Bradshaw alias Alexander Donesch, reist nach Berlin und schon im Zug fällt auf: Er hat vielleicht nicht die aufregendste Rolle des Abends, gleichzeitig spielt er in der ersten Szene auch mit Torsten Stoll als Ernst Ludwig mutig drauflos und verleiht damit seiner Rolle direkt ihren bisexuellen Anstrich. Ich mag diese Interpretation, wann immer ich sie sehe. Und auch Stoll zeigt sofort, wohin die Reise für seine Figur geht. Sein Ernst Ludwig ist charismatisch, in »Tomorrow Belongs To Me« fast schon emotional und dann im genau richtigen Moment nur noch ekelhaft und faschistisch. Hell, dieser Bruch sitzt!

Clifford zieht in die Pension von Fräulein Schneider, zur Premiere gespielt von Legende Regina Lemnitz. Sie ist nicht nur die Stimme vieler Hollywood-Schauspielerinnen, sondern vor allem schon seit 2004 bei dieser »Cabaret«-Inszenierung dabei. An diesem Abend feierte sie ihre 750. Vorstellung, doch die Routine merkt man ihr nicht an. Mit fast 80 Jahren singt, tanzt und spielt sie Fräulein Schneider, dass es eine beeindruckende Freude ist. Was für eine Ehre, sie in dieser Rolle erleben zu dürfen. An ihrer Seite mimt Dirk Schoedon den Herrn Schultz – emotional, lebensfroh und gleichzeitig tieftraurig. Als Jude bemerkt er zuerst, was der Faschismus mit seiner Heimat macht und zeigt diese Wendung des verliebten Obstverkäufers so pur und emotional, dass man nur mitfühlen kann.

© Barbara Braun
© Barbara Braun

Verführerisch & naiv mit keinerlei politischem Interesse

Und dann ist da noch der Star des Abends. Verführerisch und naiv, mit gewohnt einmaliger Stimme, jedoch keinerlei politischem Interesse, spielt Maria Danaé Bansen die Rolle von Sally Bowles. Natürlich ist das alles over the top, gleichzeitig ist Bansen dabei so selbstverständlich und ausdrucksstark, dass klar ist, wieso sie genau die richtige für diese Rolle ist. Jeder Ton sitzt perfekt, ihre Solos sind auch schauspielerisch eine Freude und sie überzeugt in jeder Minute dieser dreistündigen Performance. Unfassbar!

Und unfassbar ist auch das musikalische Arrangement in der Band-Version unter musikalischer Leitung von Damian Omansen. Sie spielt hier fast in Stammbesetzung unterschiedlichster Musicalproduktionen und ist entsprechend improvisationsfreudig, lässt sich von den Schauspielenden nach jeder Inszenierungsfreiheit ins Stück einbinden und beweist einmal mehr, dass nichts im Musical besser funktioniert als eine fantastische Liveband direkt im Sichtfeld des Publikums. 

© Barbara Braun

»Cabaret« könnte keinen besseren Standort haben als im politischen Epizentrum Berlins und ich glaube, auch deshalb funktioniert das Stück so erfolgreich. Es sprüht vor Lebensgefühl und Berlin-Charme. Gleichzeitig wird immer klarer, mit welcher Aktualität auch die Themen daherkommen – der offene Faschismus, die sexuelle Freiheit und Gleichberechtigung, die politische Naivität einer Sally Bowles, die blinde narrenfreiheit des Conférenciers, die Provokationen und der Hass auf das Fremde. Man kann dem Tipi am Kanzleramt nur zu diesem einmaligen Stück gratulieren und sich irgendwie wünschen, dass es ganz bald an Aktualität verliert – und gleichzeitig, dass sie nie aufhören, darüber zu singen. Life is a cabaret!

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