#Krimikreuzverhör mit Norbert Horst: »In der Realität gibt es kein Heer von Serienmördern«

Ein Heer von Serienmördern und desillusionierte Ermittler:innen

Norbert Horst ist Kriminalkommissar und Schriftsteller. Sein erster Thriller »Leichensache« erschien 2003 bei Goldmann. Mit »Lost Places« legt er nun den Grundstein für seine Reihe um die Staatsanwältin Camilla Lopez, Kriminalhauptkommissar Deniz Müller und den Journalisten Alexander Rahn. 

Bevor mit »Sweet Home« im Januar bereits die Fortsetzung der Reihe erscheint, haben Martin Krist und ich mit Norbert gesprochen – über gute Kriminalromane, seine Figuren, toxische Männlichkeit und den Autorenalltag. . Wie realistisch schreibt er als Kriminalkommissar? Welcher war sein schlimmster Fall? Haben Gewalt und Verbrechen wirklich zugenommen und wie wahrscheinlich ist ein Heer von Serienmördern in der Ermittlungsarbeit wirklich?

Garry Disher

Übrigens

Dieses #KrimiKreuzverhör habe ich zusammen mit Martin Krist geführt. Auszüge des Gesprächs mit Norbert Horst findet ihr in den »Bösen Briefen«, seinem monatlich erscheinenden Krimi-Newsletter. Lest dort für zahlreiche weitere Interviews, Einblicke in seine Autorenwerkstatt, exklusive Buchbesprechungen und vieles mehr unbedingt vorbei!

»Als Polizist habe ich mit viele grausame, schockierende und tragische Dinge erlebt, mit denen der normale Bürger nie konfrontiert wird.«

Wieso wird man Polizist?
Wieso man Polizist wird, ist sicherlich sehr unterschiedlich. Bei mir kann ich es nicht mehr
genau sagen, auch wenn das eine unbefriedigende Antwort ist. Meine Mutter sagte, ich habe das immer werden wollen. Zum Ende der Schule habe ich dann eine einzige Bewerbung
geschrieben, bin genommen worden, und das war es.

War dir klar, dass es irgendwann auch die Mordkommission sein muss?
Nein, am Anfang meiner beruflichen Laufbahn war mir nicht einmal klar, dass es mal die Kriminalpolizei sein muss, das kam erst im Laufe der Zeit, denn der Dienst als Streifenpolizist in einer Stadt wie Düsseldorf war äußerst lebendig, spannend und interessant. Vor dem Studium zum Kommissar musste ich mich dann entscheiden und bin zur Kriminalpolizei gewechselt. In der heutigen Ausbildung ist das allerdings völlig anders.

Was war dein schlimmster Fall? Gibt es sowas überhaupt in der Fülle der Fälle, die dir
tagtäglich begegnet sind?
Tatsächlich bin ich das schon mal gefragt worden, und dass ich länger überlegen muss zeigt,
DEN schlimmsten Fall kann ich gar nicht beschreiben. Der Berufsalltag eines Polizisten bringt
es mit sich, dass man sehr, sehr viel wirklich grausame, tragische, schockierende Dinge
erlebt, mit denen der „normale“ Bürger niemals konfrontiert wird, und da sind die Leute von
der Streife noch sehr viel intensiver betroffen als die Kripoleute, wenn es sich nicht grad um
die Kriminalwache oder die Todesermittler handelt. Von den unzähligen Leichen aus 46 Jahren sind mir nur wenige in Erinnerung geblieben aus verschiedenen Gründen. Wenn ich mich an Fälle erinnere, sind das auch häufig Gelegenheiten, in denen seelische Grausamkeit eine große Rolle gespielt hat oder Menschen in großer Verzweiflung waren. Aber wovon man da besonders berührt wird, hat sicherlich auch mit der persönlichen und individuellen Geschichte des Einzelnen zu tun.

INterview Norbert Horst Krimikreuzverhör

Norbert Horst 

wurde 1956 in Bad Oeyenhausen geboren und arbeitete nach seiner Schulzeit als Streifenpolizist in Düsseldorf, bevor er Kriminalkommissar wurde. Er ermittelte in der Wirtschaftskriminalität sowie in Mordkommissionen. Heute ist er in der Öffentlichkeitsarbeit der Polizei tätig und schrieb 2003 mit »Leichensache« seinen ersten Thriller.

© Joachim Grothus

 

Spurlos gehen Mord und Totschlag nicht an einem Ermittler vorbei, oder?
Nein, sicherlich nicht, und die Auswirkungen können so vielfältig sein, dass es dieses
Interview sprengen würde, alle aufzuzählen. Wobei die Konfrontation explizit mit Mord und Totschlag sehr viel seltener ist als mit allen anderen Formen der Gewalt oder mit dem Phänomen Tod, die nahezu alltäglich ist.

»Als Polizist musst du mit Hingabe deine eigenen Spuren verfolgen, aber nicht blind dafür zu werden, dass es auch völlig anders sein kann.«

Wie lernt man damit umzugehen?
Auch das ist natürlich ein sehr weites Feld, darum nur ein paar Aspekte. Zunächst sei erwähnt, dass das auch eine Frage der Vermeidung sein kann. Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, die finden z. B. die Begegnung mit Leichen grauenhaft, und die machen ihren Dienst dann halt bei der Wirtschaftskriminalität. Dann ist es meines Erachtens wichtig, dass man sich als Polizist und auch als Todesermittler bewusst ist, in einer diesbezüglich exponierten Rolle zu leben mit der dazu gehörenden Prägung der Perspektive, soll heißen: Ich muss mir als Polizist immer wieder klarmachen, dass die Brutalität und die Grausamkeit, die oft meinen Alltag prägen, nur ein Teil der Welt sind, in der wir leben. Es gibt auch anderes, das ich beachten sollte.

Dann spielt dabei natürlich das individuelle persönliche Stressmanagement eine Rolle, ganz gleich ob angeboren oder erworben. Manche Menschen können das halt besser und manche schlechter. Ich selbst hatte mit Leichen nie so große Schwierigkeiten, und ich erinnere mich, dass ich schon meine erste Obduktion in erster Linie als sehr interessant empfunden habe.
Was nichts mit Abstumpfung zu tun hat. In privaten Situationen war ich dennoch zu großer Trauer fähig.

Und ich habe ja mal elf Jahre Stressbewältigungsseminare für Kolleginnen und Kollegen
geleitet. Einer unserer Supervisoren und Ausbilder, ein Psychotherapeut aus Münster, hat das bei sich selbst immer so geschildert, dass er zwischen dem Leid der anderen und dem eigenen gut unterscheiden konnte. Damit konnte ich immer viel anfangen. Dann gibt es speziell bei der Schutzpolizei, die – anders als die Darstellung in nahezu allen Kriminalfilmen – sehr viel häufiger mit belastenden Situationen konfrontiert wird und dieselben sehr professionell lösen muss, die alte Sitte, dass man sich nach jedem Dienst auf ein Bier zusammensetzt. In dieser Zeit werden sehr häufig die letzten erlebten Stunden reflektiert, und auch nach Ansicht von Fachleuten ist ein solches Forum für die persönliche Resilienz ein äußerst förderlicher Faktor.

Letztendlich nochmal zu den schon erwähnten Seminaren: Auch da gibt es bei der Polizei
mittlerweile sowohl ein Angebot, das Kolleginnen und Kollegen ganz allgemein in Anspruch
nehmen können als auch spezielle Veranstaltungen für bestimmte Personengruppen, etwa für
Todesermittler oder für Sachbearbeiter von Kinderpornographie.

Gefühlt haben Gewalt und Verbrechen zugenommen – tatsächlich? Oder nur das Ergebnis
einer Medienwelt, die immer schneller um Aufmerksamkeit buhlen muss?

Es ist für jedermann bei Wikipedia leicht zu nachzusehen, dass sich speziell bei Mord die
Zahlen in den letzten 30 Jahren nahezu halbiert haben. Aus meiner Seminarleiterzeit kenne ich zudem eine Untersuchung aus den 2000er Jahren, die besagt, dass sich die Berichterstattung über Gewaltkriminalität gegenüber den 1970er Jahren jedoch vervier- bis verfünffacht hatte. Wenn früher in Bayern ein Mord geschah, hat man davon in NRW oder Niedersachsen nichts mitbekommen. Heute läuft noch am selben Tag bei ntv die Nachricht als minütlich Text über den Bildschirm. Natürlich hat das eine Auswirkung auf die Wahrnehmung und das persönliche Sicherheitsempfinden des einzelnen.

Kriminalistik und Verbrechensbekämpfung haben sich auch weiterentwickelt … Wieviel
klassische Ermittlungsarbeit wie Befragungen gehören noch zur Arbeit als Kommissar?
In der Tat haben sich die Methoden extrem weiterentwickelt. Als zwei revolutionierende Beispiele seien hier die DNA-Analyse und die Bedeutung der Massendaten genannt, ohne die heute nahezu kein Verbrechen mehr aufgeklärt wird. Dennoch ist die klassische Ermittlungsarbeit dadurch nicht weniger bedeutend geworden. Die Fähigkeit, eine wirklich gute Vernehmung durchzuführen, penible Genauigkeit bei der Bürofahndung oder ein gutes Gefühl für Timing, wann welche Maßnahme angesagt ist, sind weiterhin sehr bedeutend bei der Bearbeitung jeglicher Kriminalität.

Was zeichnet einen guten Ermittler aus?
Uiiih…, wo fange ich an, wo höre ich auf?
Ich beschränke mich mal auf drei Dinge: Zum einen ist es für einen Ermittler heute unglaublich
wichtig, dass er gut ausgebildet ist. Die kaum zu überschätzende Bedeutung neuerer
Methoden bringt es mit sich, dass ich heute als Ermittler ziemlich sattelfest bei der Nutzung
etlicher IT-gestützter Verfahren sein muss. Dazu gehören Programme etwa zur
Telefonüberwachung ebenso wie spezielle Recherchesoftware, die es mir ermöglicht,
umfangreich Verbindungen zu erkennen, wenn ich wirklich fähig bin, alle Möglichkeiten zu
nutzen. Was ich auch für wichtig halte, ist die Fähigkeit, auf der einen Seite sehr überzeugt und mit
Hingabe seine eigenen Spuren zu verfolgen, aber nicht blind dafür zu werden, dass es auch
völlig anders sein kann. Ich kann mich an viele Situationen erinnern, wo wir absolut sicher
waren, so muss es gewesen sein. Aber dann kam ein oft kleines weiteres Detail dazu, und
alles fiel ineinander. Drittens: Ich bin von meinem Naturell her kein guter Teamworker. Bei der Polizei ist das unerlässlich.

»Ich wollte in meinem Debüt absolut realistisch bleiben.«

Leichensache von Norbert Horst
Buchcover von Norbert Horst Debüt »Leichensache« (Goldmann)

Wie kam es zu deinem ersten Kriminalroman?
Ich bin seit Mitte der 1980er Jahre Mitglied der Bünder Schreibwerkstatt, einer sehr
professionell geführten Gruppe von professionellen und weniger professionellen Autorinnen und Autoren. Nach vielen Gedichten und Geschichten habe ich irgendwann einen Kriminalroman begonnen, weil ich mal probieren wollte, ob es möglich ist, einen spannenden Roman mit gewissem literarischem Anspruch zu schreiben, dabei aber absolut realistisch zu bleiben, weil ich speziell in Mord- und anderen Kommissionen die Arbeit oftmals als sehr spannend empfunden hatte. Daraus ist „Leichensache“ entstanden.

ar dir klar, dass weitere Krimis folgen?
Vor der Veröffentlichung des ersten Buches war mir das sicherlich nicht klar. Ich war wie jeder
Autor, jede Autorin froh, veröffentlicht worden zu sein. Aber nachdem der erste Roman sehr
bald mit dem Debüt-Glauser einen bedeutenden Preis gewann, und das beim zweiten mit dem
Deutschen Krimipreis genauso passierte, war klar, dass es noch ein paar Kriminalromane
geben würde.

Wieviel eigene Erfahrung steckt in den einzelnen Romanen?
Natürlich steckt sehr viel persönliche Erfahrung in den Büchern mit einer wichtigen
Unterscheidung: Was die Polizeiarbeit angeht, die praktische und rechtliche Korrektheit der
Maßnahmen, was die Stimmung untereinander angeht, die Art zu reden, bei all dem greife ich natürlich sehr intensiv auf persönliche Erfahrungen zurück.

Buchcover von Horsts aktuellem Roman »Lost Places« (Goldmann)

»Es gibt in der Realität keineswegs dieses Heer von Serienmördern.«

Bei den dargestellten Fällen greife ich sehr bewusst nicht auf Erlebtes zurück, primär aus zwei
Gründen. Einmal weiß ich nicht, wie das rechtlich aussähe, aber da gäbe es sicher ein
Möglichkeit, wie man bei von Schirach sieht. Aber ich hätte aus Pietätsgründen große
Schwierigkeiten, ein Geschehen, dass für viele Menschen den Gipfel des Grauens in ihrem
Leben darstellt, belletristisch für eigene Zwecke zu nutzen.
Darum sind alle Fälle absolut fiktiv.

Wer deine ersten Krimis kennt, weiß: experimentell, mit fragmentierter Sprache. Heute
flüssiger – ist dies dem Markt geschuldet?

Wie schon geschildert, ist der erste Roman tatsächlich als literarisches Experiment auch als
Mitglied der oben erwähnten Schreibwerkstatt entstanden. Ich schildere im Stream of
Consciousness die Wahrnehmung eines Menschen, und daraus wird ein Roman. Dafür
bekommt man Preise, siehe hoben, aber auch Leserurteile wie „… das schlimmste Buch, das
ich je gelesen habe“. Dennoch war der Wechsel der Perspektive mehr dem Wunsch geschuldet, einfach mal anders erzählen zu können, denn vieles geht mit der oben erwähnten experimentellen Perspektive nicht.

Auch das Thema »Serienmord«, das bereits im Klappentext zu »Lost Places« explizit 
hervorgehoben wird, ist eher untypisch für dich … 
Es ist richtig, dass ich auch bei der Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit der Kriminalität nach Möglichkeit gern sehr realistisch bleibe. Auch vor dem Hintergrund fand ich das Thema Serientäter bei „Lost Places, wo die Toten schweigen“ akzeptabel, denn in der Tat gibt es in der Realität keineswegs dieses Heer von Serienmördern wie in der Kriminalliteratur, aber hin und wieder kommen sie doch vor.

Mit »Lost Places« startest du eine neue Reihe – diesmal geht es um: einen Opa, der seine
Enkelin missbraucht, Obdachlose & Messis, um deren Tod sich keiner schert, einen Quasi-
Enkeltrickbetrüger, rechtsradikale Umtriebe, Urban Explorers, die in verfallenen Häusern
herumgeistern, eine unglaubliche Fülle an Themen, mit denen deine Ermittler konfrontiert
werden. Alltag in deutschen Polizeistuben? 
Ja, das ist Alltag in deutschen Polizeistuben, erst recht, wenn ich das auf die gesamte Polizei beziehe und nicht nur auf Todesermittler. Es ist für mich fast keine Situation vorstellbar, die ich dabei ausschließen würde, ganz gleich ob tragisch, komisch oder tragikomisch, ob grausam, gefährlich oder lustig. Das macht den Reiz des Berufes aus. Die Kölner Polizei hatte mal einen Werbeslogan der hieß „Alles außer Alltag“. Das trifft es.

Norbert Horst
© Joachim Grothus

Staatsanwältin Camilla, Kommissar Deniz, Reporter Alex sind seit Kindheit beste Freunde –
kommt so etwas auch im wahren Leben vor, oder ist diese Verbandelung der Ermittler:innen
eher einem Zufall der Fiktion geschuldet?

Ich war auf der Suche nach einem neuen Team und wollte mal die klassische Konstellation
aufbrechen, so bin ich auf das Dreierteam mit unterschiedlichen Berufen gekommen. Dann
fand ich die Idee reizvoll, dass die Drei sich aus der Jugend kennen, weil das erzählerisch ein
paar Möglichkeiten bietet. Jetzt, nach zwei Büchern, fühle ich mich sehr wohl damit.

Die drei ermitteln, erledigen ihre Jobs, aber man merkt ihnen eine gewisse Resignation an …
Ist das so? Ich wollte ihnen zwar eine gewisse desillusionierte Sicht auf die Welt mitgeben,
weil sie zwar jünger als Steiger sind, aber schon über gewisse berufliche Erfahrung verfügen,
aber resigniert sollten sie nicht sein. Ich werde das bei künftigen Geschichten sehr im Auge
behalten.
Auch der »Fall« wird am Ende zwar aufgeklärt, ob der Täter verurteilt wird/werden kann, bleibt
offen …
Zum einen sind wir wieder beim Stichwort Realität, denn auch, wenn die Aufklärungsrate bei
Tötungsdelikten sehr hoch ist, kann man nie sagen, was vor Gericht passiert.
Außerdem finde ich Stories eher langweilig, wenn am Ende immer alles glatt gestrichen ist.

Ihr seid neugierig geworden und möchtet ein Buch von Norbert Horst lesen? 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert