»They all deserve to die!« – Sweeney Todd (S. Sondheim) in der Staatsoper Hannover

Musical von Stephen Sondheim in der Staatsoper Hannover
Dauer: 3.15 Stunden
Sitzplatzempfehlung: Reihe 15, Platz 15. (PK.3; Mitte/ Mitte)

Exzentrisch, konsequent, mutig.

Am letzten Wochenende der Spielzeit nochmal eine rachsüchtigen Barbier beim Morden in der Fletcher-Street zuschauen? Die Staatsoper Hannover macht es möglich und holt den Sondheim-Klassiker “Sweeney Todd” vom Broadway direkt auf ihre wunderschöne Bühne.

Gleich zu Beginn wird klar: diese Inszenierung ist anders. Das gesamte Stück wird in, auf und vor einem großen Würfel gespielt, deren Gänge sich nach belieben öffnen und schließen lassen. Dahinter gibt es eine Videoleinwand, die das gesamte Geschehen im Würfel von oben filmt. Was für eine simple, aber wirkungsvolle Idee von Theo Boermans (Inszenierung) und Bernhard Hammer (Bühnenbild) um nicht nur in der Frontalen zu spielen. Gleichzeitig bringt es die Show optisch weg vom viktorianischen Musicallook in schwerem Gewand und buntem Make-Up und zeigt, dass ein Klassiker problemlos auch minimalistisch und zeitlos inszeniert werden kann. 

Stephan Loges, der an diesem Abend die Titelrolle des Sweeney Todd übernimmt, betritt die Bühne. Nach Jahren im Exil will er Rache üben an seinem Widersacher, dem Richter Tupir, der ihn verbannte und seine Frau und Tochter entführte und zwang, bei sich zu leben. Behilflich ist ihm dabei die kannibalische Pastetenverkäuferin Mrs. Lovett, die in der Zwischenzeit in sein Haus in der Fletcher-Street eingezogen ist. Anne Weber füllt diese Rolle von Beginn an mit grandioser Exzentrik und viel Gefühl für die kleinen Momente, schließlich ist sie seit jeher in Sweeney verliebt. Kleinere Fehler im Text, die sie gekonnt überspielt, verzeiht man ihr ob des Tempos sofort. Loges selbst hält mit starkem Bariton dagegen und kontrolliert das Chaos von Beginn an. Zunächst als unscheinbarer Underdog, ab dem zweiten Akt als brutaler Mörder. Diese Entwicklung wurde von Sondheim nicht nur großartig in sakraler Horrormusik vertont, sondern auch grandios hemmungslos verspielt.

Und auch die anderen Darstellenden fahren an diesem Abend zu Höchstleistungen auf: James Newby und Nikki Treurniet als Seemann Anthony und Todds Tochter Johanna im großartigen Liebesduett. Richter Turpin und Büttel Bamford alias Frank Schneiders und Phillip Kapeller – bessere Bösewichte hätte man nicht finden können. Und nicht zu vergessen Marco Lee als etwas zurückgebliebener, aber irgendwie liebenswerter Tobias, der später zum unfreiwilligen Handlanger der Morde wird. Begleitend unterstützen Mitglieder des Opernstudios der Staatsoper im Ensemble sowie das Niedersächsische Staatsorchester unter Leitung von James Hendry. 

Mit Opernsänger:innen ein Musical zu spielen, ist gewagt. Noch dazu in Englisch (Gesang) und Deutsch (Texte). In Hannover klappt es trotzdem – ein Lob an die Besetzer. In der Vita nahezu aller Darstellenden des Abends lässt sich herauslesen, dass sie in beiden Sprachen auf Muttersprachen-Niveau singen und spielen können. Das macht Spaß und den Sprachmix mit Operetteneinschlag deutlich einfacher. 

©Sandra Then

Einfach macht es den Zuschauenden an diesem Abend auch die moderne und minimalistische Inszenierung und Dramaturgie unter Julia Huebner. Schön mutig ausgespielt, garantiert eindeutig zweideutig und verdammt konsequent. Konsequent, wenn sich Mrs. Lovett am Ende des ersten Aktes in Unterwäsche auf dem Tisch räkelt, ihre Lust auf Sweeney besingt und sich währenddessen von oben bis unten mit Rasierschaum beschmiert. Konsequent in der Liebesnacht, wenn Johanna und Tobias nackt im Bühnenbild verkehren und die Kameras sie von oben bei allem beobachten. Konsequent, wenn Todd zur unkontrollierten Mordmaschine wird – das Blut spritzt per Knopfdruck, die Leichen fahren in den Bühnenboden, um im nächsten Moment vom Bühnenturm in die Fleischgrube zu fallen. Konsequent, wenn Peter O’Reilly als Barbier Pirelli, dem direkten Rivalen von Todd, in grell-pinken Glitzer-Dress und als Drag die schlichte Bühne betritt. Konsequent, wenn Turpin in einer Orgie Todds Frau missbraucht und anschließend oberkörperfrei seine Geilheit auf die Ziehtochter Johanna besingt und sich dabei selbst auspeitscht. Ich bin großer Fan davon, solche schwierigen Szenen im Sinne der Geschichte und der Moralfrage, die hier immer mitschwingt,  einfach komplett zu zeigen, statt sie nur anzudeuten. Das Publikum direkt mit der eigenen Scham und der Aktualität eines Themas zu konfrontieren, verfehlt seine Wirkung einfach nie. 

©Sandra Then

Sollte man sich Sweeney Todd in der Staatsoper Hannover ansehen? Ja, unbedingt. Wenn es die Chance noch einmal in der neuen Spielzeit geben sollte – nutzt sie. Das Musical ist eh eines der besten, wird noch dazu nicht oft in Deutschland gespielt und macht in dieser modernen Inszenierung einfach nur Spaß. Ein Abend, den ihr so schnell garantiert nicht vergessen werdet und der trotz des großartig schwarzen Humors auch viel Gesellschaftskritik mit sich bringt. Ich will so viel mehr davon. Bravo. Bravo. Bravo.

 

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