»Der Todesengel ist nicht Graf von Krolock!« – Interview mit Countertenor Nils Wanderer

Nils Wanderer Counter

Todesengel im Kleid und Gesang unter der Dusche

Ich stehe irgendwo zwischen dem Brezelstand und Fielmann im Neubrandenburger Einkaufscenter, habe Gänsehaut und Tränen in den Augen. Was geht denn jetzt ab!? Dass mich Musik begeistert, ja, das kenne ich. Diese Spontanreaktion inmitten der hektischen Massen, die sich von Laden zu Laden drängen, nicht. Noch immer erklingt »So kalt der Tod« in meinen Bluetooth-Kopfhörern – direkt durchs Ohr ins Herz. Holy shit! Der Soundtrack von »Romeo & Julia – Liebe ist alles« ist krass, das wusste ich, aber dass dieses Lied, gesungen vom Countertenor Nils Wanderer, mich so kalt erwischt – haha, was ein Wortwitz! – hätte ich nicht erwartet. Klassische Musik auf einer Musicalplatte ist nicht unbedingt das, was ich standardmäßig höre, mir in den nächsten Wochen aber angewöhne. Inzwischen laufen die Lieder von Nils bei mir rauf und runter, ich habe ihn drei Mal im Theater des Westens besucht, plane unbedingt einen Besuch seiner eigenen Tour – und habe mich umso mehr gefreut, dass er meine Interviews kennt und sofort zustimmt, als ich ihn zu einem anfrage. 


In der Kantine im Theater des Westens, irgendwo zwischen Club Mate und Nudeln mit Hähnchen, seinen singenden Kolleg:innen, dem Klappern und Huschen der Gewerke und der ehrwürdigen Atmosphäre dieser Bühne sprechen wir – über Todesengel im Kleid, weshalb Nils als Opernsänger nicht nur rumsteht, sondern gelegentlich auch Köpfe abschlägt, wieso er unter der Dusche singt und warum ihn seine eigene Stimme nicht berührt, aber schon, was sie in anderen auslöst.

»In der Oper kennt man Countertenöre, und auch dort sind sie nach wie vor etwas Besonderes, aber im Musical kennt man das kaum.«

Bist du bereit, Nils? 

Yesss! Aber Sarah, egal was du schreibst, du musst erwähnen, dass das Team hier einfach das beste Team ist, mit dem ich jemals gearbeitet habe. Jeder Mensch hier macht mir das Leben so leicht. Die Mischung aus Professionalität und diesem Persönlichen finde ich so toll!

Schreibe ich direkt ganz oben hin. Versprochen. 

Aktuell spielst du den Todesengel in ROMEO & JULIA. Wer oder was ist diese Rolle für dich? 

Ich glaube, der Todesengel ist erst einmal eine symbolische Kraft und eine Metapher für die ganze Geschichte, für das Leben und den Tod. Er ist das Symbol und die Prophezeiung für das, was passiert. Er taucht auf, und danach sterben Mercutio, Tybalt, Romeo und auch Julia. Seine Aufgabe ist es auch, das alles zu kommentieren und vorherzusagen. 

Wie hast du reagiert, als Peter Plate und Ulf Leo Sommer [die Komponisten und Autoren von ROMEO & JULIA] gesagt haben, dass sie dir eine Rolle auf den Leib geschrieben haben? 

Das ist so toll! Wir haben ja vorher schon an einigen Stücken zusammen gearbeitet und dann habe ich gesagt, dass sie unbedingt Bescheid sagen sollen, wenn sie jemals für ein Musical einen Countertenor brauchen. Sie haben sofort beide gesagt, dass es für uns alle eine tolle neue Erfahrung wäre. Und dann haben wir es tatsächlich hinbekommen, dass ich neben meinen anderen Engagements dieses Musical besetzen kann. Das war für mich eine meiner absolut schönsten Erfahrungen und ein totaler Glücksmoment. Es ist eine ganz andere Energie und auch eine andere Investition, wenn man eine Rolle mitentwickelt und sie dann einem ganz neuen Publikum aussetzt – das ist total spannend und intensiv, wie sie reagieren. In der Oper kennt man Countertenöre, und auch dort sind sie nach wie vor etwas Besonderes, aber im Musical kennt man das kaum. Ich bin in ROMEO & JULIA irgendwie anders.

Wie meinst du das? 

Nicht wertend. Es geht eher darum, dass meine Stücke und Szenen anders angelegt sind, dass mein Kostüm und mein Make-Up aus der Reihe fallen, weil ich der einzige wirklich geschminkte Mann bin. Als Todesengel strahle ich eine Autorität über meine Stimme aus und weniger über private Momente. Es geht immer darum, dass ich ein Symbolcharakter bin und nur kommentiere. 

Nils Wanderer Interview
© Guido Werner

Nils Wanderer

studierte Gesang an der Hochschule für Musik in Weimar und außerdem in der Exzellenzklasse der Guildhall School of Music & Drama in London. Er sang Konzerte mit dem Londoner Symphonieorchester, in Paris und Versailles und an vielen deutschen Opern und in großen Kirchen. Als Solist gewann er zahlreiche Preise wie den Händel-Wettbewerb, den International Asian Singing Competition oder den Bundeswettbewerb Gesang. Neben eigenen Produktionen und seiner Arbeit als Choreograf und künstlerischer Leiter spielte er große Rollen wie Sorceress und Spirit in DIDO AND AENEAS (Purcell), Oriofsky in DIE FLEDERMAUS (Strauss) oder Oberon in A MIDSUMMER NIGHT’S DREAM (Britten).

Gibt es beim Todesengel eigentlich Bühnenpannen? 

Man könnte ja meinen, dass ich mit meinen fünf Szenen, in denen ich einfach nur stehe, nichts falsch machen kann. Aber es gab letzte Woche etwas, wo wir alle herzlich gelacht haben. In der Szene zu »Herz schlag laut« lasse ich Seile herunterfallen, an denen die Darsteller:innen spielen. Ich war so vertieft in den Kuss zwischen Tybalt und Mercutio, habe noch an meinen hohen Ton gedacht und habe überlegt, dass die jetzt eigentlich vorne stehen müssten. Und dachte dann: Wo stehen sie denn? Dann habe ich runter geschaut, und alle Hauptsolist:innen schauten mich panisch an und warteten darauf, dass ich die Seile runterwerfe. Das war wirklich im letzten Moment. Auf mich muss sich eigentlich keiner verlassen, weil es nur diese eine Szene gibt, in der ich wirklich mit anderen interagiere. Ich habe danach gesagt, dass ich es ein bisschen spannend machen wollte (lacht). 

Dieses Musical ist deine erste Ensuite-Erfahrung [Show, die acht Mal pro Woche gespielt wird]. Wie geht es dir damit? 

Richtig gut! Normalerweise probe ich vier Wochen an einer Oper, wie jetzt in Hannover. Und dann habe ich zwischen Mai und August dreizehn Vorstellungen und bin wieder woanders. Das ist das Leben als freischaffender Künstler. Aber jetzt habe ich so etwas wie ein Zuhause, ich kann hier einfach herkommen, auch nachts um drei. Ich genieße es auch sehr, Berlin kennenzulernen. Im Oktober komme ich dann auch für ein anderes Projekt in der Staatsoper zurück. Es ist natürlich auch kräftezehrend, weil wir acht Mal pro Woche spielen, aber mit diesen Menschen kann man das machen. 

»Ich will kein Crossover, sondern ich will, dass die Qualität die Menschen erreicht.«

Dass du jetzt ein Musical machst, spricht schon auch ein bisschen gegen den »Kodex der Opern-Clique«, oder? Von wegen Musicaldarsteller:innen können nichts so richtig, die Musik ist nicht hochkulturell genug, …

Ja. Aber so viele meiner Opern-Kolleg:innen waren begeistert und gehyped von diesem Musical und von meinen Musical-Kolleg:innen. Ich wollte das einfach machen, weil ich die Songs singen wollte und diese Möglichkeit nutzen wollte, mich einem breiteren Publikum zu öffnen und meine Message rüberzubringen. Ich bin ein Opernsänger, der zwischen den Welten wandert. Das ist mein Ding. Es geht um Klassik, um moderne Musik und um diese Mischung. Ich fühle mich hier sehr wohl und bekomme so viel liebes, dankbares Feedback, das ich sehr schätze. Ich wusste auch einfach, dass es gut wird, weil es Peter und Ulf gemacht haben.

Wie kann ich mir den Arbeitsprozess zum Musical vorstellen?  

Wir haben uns vor Jahren kennengelernt, sind befreundet und haben für die Deutsche AIDS-Stiftung gemeinsam »St. Petersburg« aufgenommen. Aus dieser Zusammenarbeit ist dann auch »Celebrata Culpa« entstanden. Irgendwann haben sie dann von dem Musical erzählt und ich habe gesagt, dass ich gerne dabei wäre. Dann habe ich die CD mit eingesungen, die andere Musik gehört und war völlig geflasht. Und dann habe ich wirklich alles in Bewegung gesetzt, um hier mitzumachen. 

Hattest du vorher schon Berührungspunkte mit ROMEO & JULIA

Ja. Es gibt in der Oper verschiedene Inszenierungen, es gibt das Ballett, das Schauspiel. Ich bin weder ein Romeo noch eine Julia, aber ich war schon immer beeindruckt von diesem Drama. Ich selbst singe ja auch oft Texte von Shakespeare. Ich fand es jetzt spannend, das auf ein anderes Podest zu heben und anderen Menschen diese Geschichte zu eröffnen. Ich finde es so toll, dass jetzt sowohl die Mama von vier kleinen Kindern ins Musical geht, als auch ein Professor für Kunstgeschichte. 

Muss das deiner Meinung auch mit Oper passieren, damit sie langfristig auch junge Menschen erreicht? 

Ich denke auf jeden Fall, dass die Oper dem Publikum folgt. Dass man sich in gewisser Weise anschaut, wie es in anderen Genres funktioniert, ohne dabei einen Kompromiss einzugehen. Es ist wichtig, dass Oper die Qualität hält, die es hat. Es muss auch – blödes Wort – Hochkultur bleiben. Obwohl Kultur natürlich Kultur ist. Aber Oper darf sich nicht vereinfachen. Die Aufgabe muss eher sein, es unter das Volk zu bringen, zu erklären und die Menschen auf eine Reise mitzunehmen. Und es müssen Opern gefunden werden, die allgemein etwas tauglicher sind und auch etwas moderner. Man geht ja auch nicht als erstes Musical in irgendein Broadway-Downtown-Crazy-Piece, wo du nichts kennst, sondern du gehst zuerst zu WICKED oder TANZ DER VAMPIRE oder KÖNIG DER LÖWEN. Das öffnet eine Tür, und dann möchte man mehr darüber wissen. Man muss aber auch sagen, dass die Oper das auch gerade sehr umsetzt und sich verändert. Ich will aber auch kein Crossover, sondern ich will, dass die Qualität die Menschen erreicht.

Nils Wanderer Interview
© Guido Werner

Wie gehst du mit der Verantwortung um, dass deine Stimme dein Kapital ist? 

Puh, nicht einfach. In dieser Hochphase aktuell lebe ich wirklich ein kleines Rentnerleben. Ich bin um acht Uhr wach, arbeite dann. Aber ich trinke nicht, ich rauche nicht, ich meide laute Orte. Ich versuche tagsüber auch, meine Stimme zu schonen. Morgens und nachmittags gehe ich duschen, weil mir der Wasserdampf gut tut. Ich brauche das, um wach zu werden und die Stimme auszuprobieren.

Singst du unter der Dusche?

Ja (lacht). Tut mir auch leid für meine Nachbar:innen, aber so ist es halt. 

Ich bin aber auch froh, dass ich so gute Technik habe. Und dieses Stück ist ja auch so geschrieben, dass es  wirklich auf meine Stimme passt. Das ist sehr gefällig und meine Komfortzone.

Lass uns direkt mal bei der Technik bleiben. Die Vorgänger von Countertenören waren Kastraten – die blutige Vergangenheit dieses Jobs. Jetzt ist es doch eine Technik, die du erlernst, richtig? 

Ja, genau. Grundsätzlich ist es so, dass wir Countertenöre mit dem Falsett, also der männlichen Kopfstimme, singen. Sie ist aber anders ausgebildet, damit sie größer, voller und stärker wird. In der Oper ist das höchste Gesetz, dass man ohne Mikrofon über das Orchester kommt. Die Menschen müssen mich hören, wenn achtzig Menschen im Orchester spielen. 

Bei mir war es so, dass ich im Knabenchor war und nach dem Stimmbruch einfach weiter gesungen habe. Dann wollte ich Gesang studieren und wusste nicht, dass es Countertenöre gibt. Ich habe dann ein Jahr als Tenor studiert und meinem Lehrer eines Tages gesagt, dass es da noch eine Stimme in mir gibt und er bitte nicht lachen soll. Dann habe ich eine Barockarie vorgesungen und zwei Wochen später hatte ich mein erstes Konzert als Altus. Seitdem verbinde ich das und brauche auch beide Stimmen in meinem Leben. Ich arbeite ja auch gerade an meinem ersten Album und auch dort werden beide Stimmen im Einsatz sein. In der Oper nehme ich nur die Counter-Anfragen an, aber für meine eigenen Projekte switche ich da gerne. Im nächsten Jahr spiele ich an der Staatsoper in Hannover Edgar, den verstoßenen Sohn, in »King Lear«. Er hat große Passagen als Tenor, die sind wirklich fett und dramatisch, und dann geht es wieder in den ganz hohen Sopran, das sind dann dreieinhalb Oktaven. Und diese Bandbreite ist genau mein Ding. 

 

Alessandro Moreschi

Kastraten

Kastraten sind die Vorgänger der heutigen Countertenöre und deren „blutige Vergangenheit“.  Männliche Sänger wurden vor der Pubertät kastriert, um auch im Alter eine schöne Alt- oder Sopranstimme zu erhalten. 1557 wurde diese Kastration von der katholischen Kirche verboten, trotzdem starb der letzte Kastrat, Alessandro Moreschi, erst 1922. 

Du hast in Deutschland und London studiert. 

Genau. An der Franz-Liszt-Schule habe ich Gesang und Musiktheater studiert und dann in London im Exzellenzprogramm für zehn Opernsänger Gesang und Schauspiel. Das war sehr wichtig für mich – sprachlich, technisch und vor allem für meine Kollegen. 

Du singst mit dem Londoner Symphonieorchester, du hast deine eigene Tour, hast viele Preise gewonnen, bist bis 2025 komplett ausgebucht. Gibt es etwas, das dich aktuell noch so richtig reizt? War es vielleicht sogar das Genre Musical?  

Auf jeden Fall, Musical war für mich ein ganz wichtiger Punkt, weil ich das unbedingt machen wollte. Das nächste große Ding ist das Album und dann auch damit eine Tour und eine Show zu machen. Eine Show mit Gesang, Schauspiel, Tanz und Regie. Ich denke, man muss immer groß träumen, dann kommt man da auch irgendwann hin. 

Und was ist der ganz große Traum?

Ich möchte nicht nur medial passieren, sondern große Touren mit Kolleg:innen füllen. Ich sehe da sehr viel Kraft und große Chancen, neue Dinge zu kreieren. Ich glaube auch, es wird Zeit für mehr gute Musikshows im Fernsehen und mehr Kultur generell, da würde ich mich freuen, ein Teil davon sein zu dürfen. 

Aha? Ist da was in Planung? 

Ich denke schon (lacht). Wir arbeiten da gerade dran, ja. 

Wenn du so teaserst, musst du damit rechnen, dass ich nachfrage. (lacht) 

(lacht) Die Idee ist schon da, sich medial vorzustellen und mit dem Album eine ganz eigene kleine Oper zu kreieren, die man in Philharmonien und auf großen Touren spielt. Und warum sollte man sich dann nicht auch hinsetzen und musikalische Themen beleuchten und Songs covern. Da gibt es viele Möglichkeiten und Ideen. Ich möchte versuchen, mein ganz eigenes Ding durchzuziehen und ich möchte auch ein großes Publikum damit erreichen, ich nehme hier total viel mit. 

nils wanderer
© Guido Werner

»Ich möchte meine Mama begeistern, die gelernte Friseurin und jetzt Krankenschwester ist, meinen besten Freund, der Türsteher ist und auch meinen Patenonkel, der Professor für Musik ist.«

Wer inspiriert dich? 

Für viele ist es eine Floskel, aber es sind wirklich meine Kolleg:innen. Ich hatte immer Idole wie Ella Fitzgerald, Dinah Washington, aber auch Billie Eilish. 

Ich muss die Kreativität spüren und bin da gerade total drin. Ich frage mich auch gerade selbst, wie ich kommuniziere, was ich bin. Wie kann ich dem Publikum helfen, mich zu verstehen? 

Und wie willst du das erreichen? 

Ich möchte Menschen einladen. Dafür ist der Todesengel ein wichtiger Schritt, weil es mir immer um Ehrlichkeit und Emotionen geht. Meine Stimme soll nicht nur als Opernstimme verstanden werden, aber man soll natürlich schon hören, dass sie dort herkommt. Aktuell bin ich mehr denn je an der Mischung von Elektro, Techno und meiner Stimme interessiert. Das kann auch gut mit einem Orchester funktionieren. Ich möchte ein Publikum haben, das in allen Reihen divers ist. Ich möchte meine Mama begeistern, die gelernte Friseurin und jetzt Krankenschwester ist, meinen besten Freund, der Türsteher ist und auch meinen Patenonkel, der Professor für Musik ist.  

Das Publikum ist tagtäglich von deiner Musik berührt. Hast du das selbst auch, dass du von deiner Musik berührt wirst? Oder anders gefragt: Was war für dich der emotional krasseste Moment auf einer Bühne? 

Es war das erste Konzert nach Corona. Ich habe in der Philharmonie de Paris in Paris die Matthäus-Passion von Bach gesungen. Das ist mein Seelenstück. Das Beste, was ich dir von mir bieten kann. Da gibt es die Alt-Arie »Erbarme dich, mein Gott« mit Solo-Geige und Orchester. Und das singen zu dürfen, nach dieser langen Zeit, mit dem besten Orchester, das ich kenne, in der besten Halle, die ich kenne und dann das Publikum zu sehen, das wirklich an jeder Ecke Tränen in den Augen hatte, das war wunderschön. Alle haben Live-Musik vermisst und ich selbst habe dann auch gemerkt, wie mir eine Träne runtergerollt ist, weil mich die Energie so berührt hat. Meine Stimme kann mich nicht berühren, dafür bin ich zu selbstkritisch, aber manchmal kann ich trotzdem sehen, dass es Menschen berührt. In diesem Moment war das total emotional, danach musste ich direkt meine Oma anrufen. Das war sehr besonders. 

Wenn ich mich mit deinen Kolleg:innen im Musical unterhalte, geht es oft um Rolleninterpretation und das Verständnis für eine Rolle. Oper stelle ich mir oft eher weniger tiefgründig vor. Die Darsteller »stehen oft nur rum und singen gut«. Gibt es da auch diese tatsächliche Auseinandersetzung mit der Rolle? 

(lacht). Es ist sehr im Wandel. Mittlerweile gibt es physisch unglaublich anspruchsvolle Produktionen. Wir bewegen uns, werfen uns auf den Boden, rammen uns Messer in die Brust und bluten. Da muss ich echt sagen, dass das ohne Vorbereitung gar nicht geht. SALOME von Strauss geht viereinhalb bis fünf Stunden und in der Zeit schlägst du deinem Partner den Kopf ab. Du musst da investiert sein, sonst kannst du das nicht. 

Ich bin ehrlich, manchmal finde ich, dass der Beruf des Opernsängers zu sehr romantisiert wird. Egal, was ich spiele, ich bin außergewöhnlich stark in meine Charaktere involviert, aber wenn ich zu sehr fühle, dann leidet meine Stimme. Da muss ich auch meine Aufgabe als Dienstleister wahren. Sobald mir ein Kloß im Hals wächst, ist es schlecht. Es ist ein schmaler Grat zwischen allem, was ich abrufen kann und dem, was ich mir erlauben kann. Gerade auch, wenn ich ohne Mikrofon singe. Ich brauche einen kleinen Schlachtplan, sonst stehe ich ohne Stimme da. Dafür kaufe ich mir immer das Libretto und übersetzte es in deutsche Sprache, wenn es Englisch, Französisch, Russisch oder Italienisch ist. Dann mache ich den Rhytmus, dann Töne und dann wird es gesungen. Davor passiert gar nichts anderes. 

Das heißt, du bist ein richtiger Planer? 

Eigentlich gar nicht, da aber schon. Dann geht es auch um den Austausch mit dem Regisseur: Was ist die Idee? Was ist die Message? Auch in der Oper haben wir sechs bis acht Wochen Zeit, um eine Figur zu erarbeiten. Das heißt, ich kann es mir schon erlauben, eine Rolle zu entdecken. Manchmal braucht es nur eine Person, die im Rampenlicht singt – denk mal an Sam Smith oder Adele. Aber dann gibt es auch Rollen, die es verlangen, interpretiert zu werden. Vor zwei Jahren habe ich L’ORFEO von Monteverdi gemacht, da habe ich aktiv mitgetanzt. Es kommt immer auf das Stück an.

Du nimmst also erst die Musik auseinander und gehst dann an die eigentliche Figur ran. Wie machst du das? 

Ich lese alles, was ich zu einer Rolle finden kann. Bei LEAR gehe ich zum Beispiel nicht nur in die Texte von Shakespeare, sondern auch in die Rolle eines Stiefsohnes, der verstoßen wird. Sobald ich das alles erfahren habe, schiebe ich alles zur Seite und gehe in die Produktion. Und dort höre ich mir an, was die Menschen zu sagen haben. Ich möchte da nicht so über-educated reingehen, sondern auch Platz lassen für andere Sichtweisen. Im Endeffekt muss dann ein Gesamtes rauskommen, das sich für mich gut anfühlt. Das ist beim Todesengel auch erst ganz zum Schluss gewachsen. Es hat Zeit gebraucht herauszufinden, was der Todesengel ist und nicht Graf von Krolock.

»Ich glaube, dass man Kinder mit Qualität immer noch beeindrucken kann.«

Damit sind wir ja wieder am Anfang. Lass uns nochmal an dieser Entwicklung der Rolle teilhaben. 

Anfangs stand ich nur auf dem Balkon und habe gesungen. Dann kamen immer mehr Subtexte dazu. Ich habe kommentiert und beobachtet. Die Rolle ist in den Probenwochen sehr gewachsen und wir haben sie gemeinsam erarbeitet. Die Musik gibt der Rolle ihre Bedeutung. Ich habe überhaupt keinen Text. Wobei (lacht) – einmal fast. In irgendeiner Probe meinte Pauli [Paul Csitkovics, Erstbesetzung Romeo]: »Gib mir das Gift!” und ich so: »Ja, hier!«. Das wurde aber dann rausgenommen – aus Gründen (lacht wieder). 

Beim Todesengel wäre jede Bewegung zu viel. Er lebt davon, dass er da ist, wenn jemand abnippelt. 

Ich stehe selbst auch oft auf einer Bühne und weiß, wie schwer es ist, einfach nur ruhig zu stehen. Fällt dir das auch so schwer? 

Gut, dass du das sagst, das glaubt nämlich immer keiner. Um mich herum schlägt alles Räder, dreht Pirouetten und ich stehe da einfach nur als Typ im Kleid und singe mein Stück. Das zu reduzieren war schwer. 

 

Ist das langweilig? 

Nein. Es passieren ja trotzdem viele Dinge und ich sende meine Energie und meine Emotionen. Ich will den Tod verkörpern, das ist sehr intensiv. Und auch technisch besonders, weil ich erstmals mit Mikrofon singe, dadurch kann ich auch mal etwas Stimme zurücknehmen und muss nicht immer vollen Stoff auf die Zwölf geben. In der Oper singe ich ja immer ohne Mikrofon, hier habe ich aktiv darum gebeten, um mehr Variation zu geben. Obwohl wir es auch ausprobiert haben, wie es ohne klingt – und es funktioniert. Es ist mir auch wichtig zu betonen, dass bei mir auch alles ohne Mikrofon geht. 

© Sarah Lippasson

Du spielst in Hannover mit L’ORFEO eines der ältesten Stücke Oper und mit ROMEO & JULIA das modernste Stück Musical. Welche Parallelen kannst du dazwischen ziehen? Was macht das Musical genauso wie die Oper? 

Es geht um die Liebe, ein Typ geht durch die Hölle und muss alle Struggle überwinden. Musikalisch wurde nicht viel Neues entwickelt. Es gab damals schon Moll, Dur und bestimmte Akkordfolgen. Bei meinem Projekt WANDERER – ZWISCHEN DEN WELTEN kann ich Monteverdi auf der E-Gitarre spielen und es klingt wie ein Popsong. Es geht oft um große Gefühle und Emotionen. In der Oper gibt es mittlerweile auch queere Opern und aktuellere Themen. 

Du hast eine 14-jährige Person vor dir und versuchst, sie für Oper zu begeistern. Was würdest du sagen? 

Ich würde zu dem Kind sagen, dass ich möchte, dass das Kind Musik in neuer Intensität erlebt. Macht kein Kind mit, weiß ich (lacht). Es gibt ja so viele eindrückliche Bilder in der Oper, vielleicht würde ich einfach sagen, dass wir in den Zirkus gehen. Oder ich würde sagen, dass wir zu Billie Eilish gehen und einfach lügen (lacht). Nein, ernsthaft. Ich glaube, dass man Kinder mit Qualität immer noch beeindrucken kann. Ich vertraue den Kindern so weit, dass sie verstehen, dass es um mehr geht als ein TikTok-Video. 

Du darfst der Bühnenwelt eine Botschaft mitgeben. Was würdest du sagen, was wäre die Botschaft? 

Ich wünsche mir, dass wir als diverse Gruppe Kunstschaffender viel enger zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen. So stirbt Kunst nicht aus und hebt sich auf ein neues Level. Vor ein paar Jahren hätte ich gesagt, dass es Moderne und Crossover braucht, aber ich glaube, viel wichtiger ist, dass wir uns ein Haus bauen, in dem wir alle gerne wohnen und dadurch das Publikum einladen.

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