Ziege mit Rucola auf Kürbissuppe und Bühnenangst
»Alter Vatti!«, schreibt Alexander Auler mir auf meine Story von der Serie, die wir offensichtlich beide bingen. »Ich hab’s geliebt!«, antworte ich auf sein Bild von einem Roman von Ferdinand von Schirach. »Was ist Booktok«, fragt er mich, als ich bei der Buchmesse bin. »Warum haben wir beide eigentlich noch kein Interview gemacht?«, sage ich irgendwann, als wir mal wieder über eine Show von »Ku’Damm 59« philosophieren.
Zugegeben, Alex hatte ich nicht sofort auf dem Schirm für ein Interview. Nachdem wir uns aber immer wieder über Bücher, Serien, Fotografie und Kürbissuppen ausgetauscht haben, wusste ich, dass das richtig gut passen könnte. Und als ich ihn in seinen Rollen – zuerst als Mutter Brause Sänger in »Ku’Damm 56«, dann als Lord Capulet in »Romeo & Julia« und zuletzt als Verteidiger Hans Liebknecht und Cover des homosexuellen Staatsanwalts Wolfgang von Boost in »Ku’Damm 59« – auf der Bühne im Theater des Westens gesehen habe, hätte ich das Interview am liebsten sofort geführt. Geht aber nicht: »Die nächsten Wochen sind wild«, fasst Alex unsere Terminkalender zusammen.
Wir treffen uns dann am 6. November in einem Café in Berlin. »Is’ der echt wieder Präsident?«, begrüßt er mich. »Glaub’s leider schon«, sage ich. Dann legen wir unsere Handys für den Nachmittag weg, bestellen Cappuccino und reden fast drei Stunden lang miteinander. Zunächst über Alex’ Weg ins Biz und alles, was nicht schon in seiner Vita steht. Schnell erzählt er aber auch von Selbstzweifeln, Blackouts, Erschöpfung auf der Bühne und Strugglen mit seinem Körpergewicht. Es geht um politische Werte, Rucola-fressende Ziegen in Probenprozessen, Lustobjekte, Hussel-Culture und das Loslassen von Ängsten. Zwischendurch freue ich mich, dass ich richtig lag und wir wirklich so gut miteinander sprechen können. Vielleicht ist das hier mein ehrlichstes, tiefgründigstes und ausführlichstes Interview bisher. Danke, dass du dich mir geöffnet hast, Alex.
»Ich falle sehr schnell in Gedankenkarusselle«
Du hast Hans Scholl gespielt; außerdem Lord Capulet, aktuell Hans und Wolfgang in »Ku’damm 59«. Deine Traumrollen sind das Phantom in »Phantom der Oper« sowie Enjolras und Javert in »Les Misérables«. Magst du eigentlich historische Musicals?
Ich glaube schon (lacht). Ich stehe generell auf diese Thematik und finde, dass ich das für mich gut greifbar machen kann. Ich war immer geschichtsinteressiert und hatte auch einen Leistungskurs in der Schule. Ich finde, dass ich das als Darsteller auch gut in einen größeren Kontext setzen und überlegen kann, wie es damals war, wie es den Menschen ging. Da bin ich anders angeregt als bei einer Filmvorlage oder bei einem Buch. Deshalb finde ich das so spannend.
Nach deiner Ausbildung als Industriekaufmann hast du dich an der Universität der Künste in Berlin beworben und Musical studiert. So stringent steht es in deiner Vita. Aber wie hart war der Weg zu dieser Entscheidung tatsächlich?
Ich war immer schon musikbegeistert und habe Trompete gespielt. Mein Lehrer hat mich dann überredet, es im Orchester zu versuchen. Es ging dann vom Dorforchester über die Bigband der Schule in ein Symphonieorchester, wo wir große Werke in verschiedensten Konzerthallen gespielt haben. Musik war also schon lange ein Thema. Weil ich aber eher ländlich aufgewachsen bin, konnte ich das beruflich nie greifen und bin meiner Familie als Industriekaufmann zu Bertelsmann gefolgt. Ich habe dann aber schnell gemerkt, dass das Unternehmertum mit seinen Hierarchien nicht unbedingt mein Ding ist. In einem Club hier in Berlin habe ich dann Leute kennengelernt, die an der UdK studiert haben. Mit diesen bin ich im Kontakt geblieben und hatte so Connections zum alltäglichen Unileben. Dann habe ich entschieden, das zu probieren und das hat auch funktioniert.
Alexander Auler
wurde 1993 in Gütersloh geboren. Nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann führte ihn sein Weg nach Berlin, wo er Musical an der Universität der Künste studierte. Nach der Ausbildung spielte er Hauptrollen in CATS, GREASE und SCHOLL. Seit einigen Jahren steht er nun auf der Bühne im Theater des Westens und wirkt aktuell als Hans und Cover Wolfgang in KU DAMM 59 mit.
»Für diese Stoffe mache ich den Job.«
Du meintest in deiner Vorstellung von »Ku’damm 59«, dass du am ehesten Helga, also die älteste und vernünftigste der drei Schöllack-Schwestern im Musical, bist.
Ich falle schnell in Gedanken-Karusselle. Aktuell erlebe ich zum ersten Mal, dass ich nicht zu einer Audition eingeladen wurde. Ich habe mich für »Harry Potter« beworben. Da denke ich schon: Bin ich nicht mehr gewollt? Was ist passiert? Die wollen mich nicht mal sehen. Das finde ich für meine Psyche schon krass.
Höre ich da Selbstzweifel?
Ja, sehr. Vor allem nach allem, was ich geleistet habe. Ich habe sofort gedacht, ob ich auf meinem Bild zu jung aussehe? Vielleicht wurde die Rolle auch nicht frei oder es war einfach Pech, aber diese Variablen machen mich schon verrückt. Ich kann ja nur hingehen, mich vorstellen und hoffen, dass es klappt. Und um dann nicht völlig zu verzweifeln, muss ich einen Ruhepol finden, den ich aber immer wieder suche.
Du hast dann verschiedene Groß- und Stadttheaterproduktionen gemacht: »Sunset Boulevard«, »Cats« in Wien, »Jersey Boys« in Amstetten. 2023 dann Hans Scholl in der Produktion von Titus Hoffmann und Thomas Borchert. »Scholl – die Knospe der Weißen Rose« war deine erste Welturaufführung. Wie viel Verantwortung hatte diese Rolle?
Viel. Oft ist die Scholl-Thematik ja vor allem durch die letzten Tage bekannt. Und Sophie als Kämpferin und Rebellin. Aber wir haben die Geschichte in ihren Anfängen erzählt – und das waren eben Hans Scholl und Alexander Schmorell. Als das Angebot kam, habe ich mich wahnsinnig gefreut. Aber du sagst es: Das war eine Verantwortung. Und das hat sich durchgezogen. Wir waren uns der Verantwortung alle bewusst. Insbesondere Titus als Autor; ich glaube, er kennt jeden Brief von Inge Scholl auswendig (lacht). Er konnte alles begründen und das hat es sehr komplex gemacht.
Es kam dann auch oft die Kritik, dass es sehr überfordernd wirkt, eben weil es so komplex war.
Manchmal vergleiche ich dann auch die Stücke – speziell »Ku’Damm 59« und Hans Liebknecht mit meinem Hans Scholl. Hans Liebknecht hat viel weniger Szenen, viel weniger Text, aber da muss in drei Sätzen sofort eine Haltung da sein. Bei Hans Scholl hatte ich mehr Fahrplan und Spielraum. Das war bei »Ku’Damm 59« anfangs auch herausfordernd. Aber ich hatte damals in Vorbereitung auf Hans Scholl ein Interview mit Anthony Hopkins gesehen. Der hatte Respekt vor einer großen Rolle und Elizabeth Taylor meinte zu ihm: »Sprich den Text. Versuche nicht zu spielen, sage einfach die Worte und lass das kommen.« Das hat mich extrem beruhigt und auch sehr in der Rolle beeinflusst.
Auch in Hans und deinem Cover [Zweitbesetzung] als Wolfgang?
Ja. Im Musical haben wir viele unnatürliche Elemente. Es ist nicht natürlich, dass sich zwei Menschen singend unterhalten, während einer der beiden außerdem in Tanz ausbricht …
… nicht?
Never say never (lacht).
Aber vieles im Musical wird erhöht, weshalb mein Ansatz ist, dass ich natürlich interpretiere. Ich könnte mir die Serie anschauen oder versuchen, irgendwas möglichst künstlich rüberzubringen. Aber am Ende unterhalten sich zwei Menschen und ich muss mich nur fragen: Wie ist das, wie geht es mir und wie klingt das?
»Ich war nicht enttäuscht, aber ich war es anders gewohnt.«
Nach »Scholl – die Knospe der Weißen Rose« in Fürth bist du nach Berlin gekommen, hast dort ein paar Monate »Romeo & Julia« gespielt und auch zwei Wochen lang »Ku’Damm 56«. Letzteres hast du gesehen und wusstest, du musst diese Show machen. Wieso?
Die Show hat mich wieder inspiriert, in diesem Genre zu arbeiten. In London sind Genre und Show egal, weil das Niveau und die Professionalität so extrem hoch sind. Man geht immer raus und ist inspiriert, selbst wenn es nicht unbedingt mein Stück ist. Das vermisse ich hier sehr oft, weil wir häufig nur auf Namen, Titel und Sicherheit gehen. Peter [Plate] und Ulf [Leo Sommer] [Die Komponisten der Show und Intendanten des Theater des Westens] haben etwas Neues gemacht. Das Resultat läuft am Ende. Und dann habe ich diese historische Geschichte der vier Frauen gesehen und war extrem inspiriert. Die Musik war catchy und ich denke so oft, wie toll es war, dass ich das machen durfte. Allein das Opening zu singen, hatte jedes Mal so eine Wucht. Das ist eben nicht »Jazz-Hands Happy-Peppy«. Für diese Stoffe mache ich den Job.
Und dann warst du auch mit neuen Figuren bei der Uraufführung von »Ku Damm 59« dabei. Wie war das?
Aufregend! Während der Proben habe ich mich auf Hans konzentriert, weil ich wusste, dass Wolfgang von der Menge her überschaubar war und wir ja eh ein Paar spielen. Das Team im Theater des Westens war natürlich größer als in Fürth. Da kommt es unweigerlich zu Momenten, wo man viel probiert und nicht weiter weiß. Es gab dieses Mal auch keinen Workshop [Bei einem Workshop werden neue Shows zunächst ausprobiert, bevor sie möglicherweise produziert werden], was ich etwas bedauere. In Zukunft würde ich mir das wieder wünschen, weil man durch so einen Workshop gewisse Erkenntnisse bekommt und nicht eine Woche lang eine Nummer probt, die am Ende wegfällt, weil sie nicht funktioniert.
Philipp [Nowicki, Erstbesetzung Wolfgang von Boost] hat mir bei unserem Interview vom Musikvideo erzählt, bei dessen Dreh ihr euch zum ersten Mal getroffen habt. Der Song war gesanglich und visuell sehr intim. Wie hast du das wahrgenommen?
Es war krass, dass ich mit Peter und Ulf ein Musikvideo drehen durfte. Es gibt Momente, da mache ich mir sehr viele Gedanken, aber in diesem Moment war ich ganz still und habe einfach meine Ruhe darin gefunden. Wir kamen in den Raum und da war eine Drehscheibe, die nicht größer war als unser Tisch hier, vielleicht sechzig Zentimeter. Darauf sollten wir uns stellen und der hat sich dann gedreht. Und wir so: Okay, gucken wir mal, was jetzt passiert. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass das alles nicht intensiv war. Das war aber auch gut für die spätere Probe, weil wir danach privat und in den Rollen schon viel voneinander wussten (lacht).
Wolfgang hat noch ein bisschen Potenzial in der Rollenentwicklung. Bei Hans …
… schön ausgedrückt (lacht).
… ist das nicht so.
Ich hab schon gehört, dass du ehrlich bist. Find ich gut.
End of Story. (lacht) Wie geht man an eine Rolle ran, die kaum mehr als fünf Sätze sagt, aber zum Dreh- und Angelpunkt eines ganzen Handlungsstrangs wird? Warst du enttäuscht?
Enttäuschung würde eine Erwartung voraussetzen. Ich wusste, dass es viele Rollen gibt und das macht es auch für uns interessant. Das hat aber zur Folge, dass manche Rollen kleiner sind. Ich war nicht enttäuscht, aber ich war es anders gewohnt. Ich kannte bisher große Rollen mit viel Text und Präsenz. Nach dem ersten Read-Through hatte ich sofort Angst, dass ich mich nicht zeigen kann. Natürlich möchte ich mein Können auf der Bühne zeigen und nicht der Baum hinten links sein.
»Ich hatte wochenlang Momente, wo ich von der Bühne kam und nicht wusste, was ich in der nächsten Szene sage und mache.«
Auf den ersten Blick wirkt Hans aber wie der Baum hinten links.
Genau. Und dann galt es in der Probenphase herauszufinden, wo ich mich einbringen kann. Ich werde nie den ersten Probentag der »Frühling in Berlin«-Choreo vergessen. Es ging an das Staging und normalerweise stelle ich mich nach hinten, weil ich fast zwei Meter groß bin. Aber in diesem Moment habe ich mich bewusst nach vorne gestellt. Jonathan [Huor, Choreograf der Show] hat mich angeguckt und meinte nach kurzem Überlegen: »Okay!« Seitdem denke ich mir jedes Mal: Für Hans tanze ich jetzt ein paar Achter, toll! Ich suche also meine Momente, um einen roten Faden zu finden. Aber ich würde lügen, wenn ich sage, dass das leicht war.
Wie geht dein roter Faden?
(lacht) Hans, und da schließt er sich gut an mich an, steht total für seine Überzeugungen ein. Er findet es wichtig, gewisse Kämpfe auszuführen, hat aber auch gelernt, nicht alle Kämpfe zu kämpfen. Ich brauchte Klarheit und die musste ich mir erarbeiten. Auch unsere Gruppe – Helga als Wolfgangs Ehefrau, Wolfgang und Hans – hat es total zusammengeschweißt. Anfangs wusste ich nicht, ob ich so selbstsicher, innerlich überzeugt und klar sein kann. Ich wusste im ganzen Prozess nicht, wo ich mich finden und einbringen kann, aber das hat sich entwickelt. Jemand, der eine Preview oder die Premiere gesehen hat – oder das Video, das wir eine Woche nach der Premiere aufgenommen haben – wird eine andere Show sehen. Vieles hat sich gefestigt und entwickelt, und das Ergebnis ist jetzt schön.
Aber schön reicht nicht immer, oder?
Ich bin niemand, der kommt, seinen Turn macht und dann geht. Es war ja schon in der Erarbeitung schwierig und es jetzt immer wieder neu zu denken finde ich auch manchmal anstrengend. Aber wenn ich damit aufhöre, dann kann ich es auch bleiben lassen.
In acht Shows pro Woche kann ich mich jedes Mal neu erfinden und Dinge ausprobieren. Das führte aber insbesondere in den letzten Wochen dazu, dass mein Körper nicht mehr konnte. Ich war erschöpft und müde, mein Körper wusste alles. Mein Verstand musste dran bleiben und ich durfte mich nicht verletzen. Ich hatte Augenblicke, wo ich von der Bühne kam und nicht wusste, was ich in der nächsten Szene sage und mache.
Hast du Angst?
Ja. Seit Wochen. Gerade Wolfgang wartet so auf seinen Einsatz, dass ich drucküberladen bin, dass ich mich verhaspel, alles nochmal durchgehe und dann doch nichts weiß. Da kickte irgendwas rein, was zum Glück besser geworden ist. Ich habe mit meiner besten Freundin gesprochen und mich damit auseinandergesetzt. Ich habe versucht, diese Angst als Chance zu sehen, mich zu entspannen und da durchzukommen.
Das klingt zu einfach.
Es war ein Prozess von mehreren Wochen, bei dem ich in jeder Szene schweißnasse Hände hatte. Meine Bühnenpartner kamen nach »Zwischen Ost und West« und haben gefragt, ob es mir gut geht, weil meine Hand so kalt war. Ich habe so sehr versucht mich zu fokussieren. Und irgendwann sagte ich mir, dass es ja auch gut für die Rolle ist …
Schönrederei?
Sehr. Die Rolle sollte das haben und nicht ich als Darsteller. Ich lasse Sachen oft und sehr intensiv an mich ran. Das zeichnet mich aus, ist aber auch nicht immer gut. Es hat nur geholfen, durchzugehen, Rituale zu finden und mich zu entspannen. Wir haben alle einen hohen Anspruch, aber es ist auch keine Operation am offenen Herzen. Und das sagt sich jetzt auf jeden Fall leichter als es ist. Das ist dann die Begleiterscheinung des Jobs. Aber ich sage mir auch immer, dass das Publikum die Show meistens nicht auswendig kennt. Und das ist dann sehr therapeutisch, weil ich mich fragen kann: Muss ich mich so wild machen oder kann ich da auch erstmal durchgehen?
»In der Probenphase sollte ich als Ziege Rucola kauen.«
Welche Rituale hast du für dich gefunden?
Ich habe keine rollenspezifischen Rituale, aber als Wolfgang bin ich fokussierter und ruhiger. Wenn ich Hans bin, der ja in der Show auch ständig im Ensemble unterwegs ist, bin ich unbeständiger, energetischer, quirliger. Gerade der erste Akt vergeht in zehn Minuten …
… als Ziege? (lacht)
… die Ziege, love it.
Tatsächlich?
Ich … habe sie lieben gelernt (lacht). Anfangs dachte ich: Was mache ich hier?
Exakt meine Gedanken während der ersten Preview.
Als in der Probenphase der Rucola kam, den ich kauen sollte, habe ich gedacht: Spannend, dafür habe ich vier Jahre lang studiert. Die Idee ist dank Jonathan und AJ [AJ Kingma, Dance Captain] dann aber auch schnell gestorben. Thank God.
Du hast gerade gesagt, du lässt Dinge oft nah an dich ran. Was hast du bezüglich Hans und Wolfgang von den Proben mit nach Hause genommen?
Im Theater und diesem Stück geht es viel um zwischenmenschliche Beziehungen. Und auch um das Hinterfragen dieser. Das hatte auch in meinem privaten Umfeld einen großen Einfluss. Auf jeden Fall. Manchmal kann ich gar nicht sagen, was während der Begegnung mit Wolfgang passiert ist. Letztens hatte ich eine Situation mit einem Kollegen, wo ich in der Line »Wie kann man so glücklich und verzweifelt sein?« gemerkt habe, wie er gebrochen ist. Er hat sich geöffnet und gläserne Augen bekommen. Und das sind Momente, die so pur und intim sind, dass sie mir keiner nehmen kann. Ich möchte auch, dass das so bleibt und dafür muss ich immer wieder loslassen. Ich treffe bewusst die Entscheidung, dass ich dann loslasse und das ist sehr besonders.
Was würdest du dir wünschen, dass das Publikum von Hans und Wolfgang mitnimmt?
Ich muss vorab sagen, dass ich es schön finde, dass Peter und Ulf diese queere Geschichte auf der Bühne zeigen. Aber let’s face it: Wir machen diesen Job, um gesehen zu werden. Fight me, aber ich glaube das wirklich. Ich hatte Angst, dass wir nicht gesehen werden. Zum Glück kam schnell die Rückmeldung vom Publikum, dass wir gesehen werden, das verliert man bei so einem langen Probenprozess irgendwann aus den Augen. Diese queere Sichtbarkeit in dieser Zeit um 1959 zu zeigen, das ist wahnsinnig aktuell. Es müssen Rechte für alle her und die Geschlechterrollen müssen hinterfragt und besprochen werden. Im Endeffekt geht es aber darum, dass sich zwei Menschen treffen und haben wollen. Das ist die Bottom Line.
»Haben Sie ein Herz?«
»Hören Sie öfter mal drauf.« Dieser Satz sagt mir jeden Tag, warum ich das machen will. Wir machen Aussagen, wir verhandeln eine Situation und wir geben etwas mit. Ich habe so viele Nachrichten von Menschen bekommen, die das nicht zeigen oder leben können. Und das jetzt auf der Bühne zu zeigen, insbesondere mit den zwei sehr intensiven Kuss-Sequenzen, das empfinde ich als eine große Verantwortung. Die beiden Figuren haben ja auch unterschiedliche Ausgangsbedingungen. Während Wolfgang zögert, weiß Hans in diesem Moment genau, was er will und hat seinen Weg woanders gemacht.
Sind wir jetzt bei eurem oft gewünschten Spin-off?
Ich sag’s ja immer wieder! (lacht)
Mit Annette Hess [Autorin des Buches von Ku’Damm 59] habt ihr schon während des Probenprozesses immer wieder diskutiert und mehr Texte gefordert. Ihr wolltet Momente dazwischen, präsenter sein. Wie genau stellst du dir das Spin-off vor, gibt es Pläne?
Nicht offiziell, aber es gibt wohl Fanfictions, das finde ich sehr spannend. Ich stelle es mir sehr pragmatisch vor. Da sind diese zwei Rollen, die eine hohe Popularität bei den Fans haben. »Zwischen Ost und West« ist ein toller Song, aber es ist so schade, dass diese Verhandlung auf vier Minuten begrenzt ist.
Ich frage mich: Wo kommen die Figuren her, wie treffen sich die beiden? In der Serie gibt es schöne Streitszenen im Gericht, wo beide eine Position haben. Sie diskutieren richtig heftig und irgendwann merkt man aber, dass da noch mehr ist. Und auch im Gefängnis, wo Hans dann ist, geht es weiter. Es ist wert, diese Geschichte zu erzählen. Und dass das mit der Musik von Peter Plate und Ulf Leo Sommer gut funktioniert, das merken wir ja …schreib das bitte ganz groß ins Interview.
»Ich habe immer schon mit meinem Gewicht gestrugglet und mich nie wahnsinnig wohl in meinem Körper gefühlt.«
Ich habe Philipp damals im Interview mit der Frage konfrontiert, ob man das, was man auf einer Bühne spielt, in gewisser Weise auch sein muss. Stichwort: Der hetero-Mann Mark Seibert spielt die Transfrau Helena in »Ein wenig Farbe«. Du warst damals wohl aber derjenige, der sich da noch mehr aufgeregt hätte …
Ich weiß genau, was ich jetzt sagen will, aber es ist schwierig, das zu formulieren. Ich habe kein Problem anzuecken, aber ich möchte keine Person verletzen. Und ich möchte auch über keinen Werdegang urteilen.
»Ein wenig Farbe hat Rory Six geschrieben, ein Freund von mir, mit dem ich »Cats« gemacht habe. Ich weiß, dass dahinter ein Bussinessaspekt steht. Es sind ein kleines, nicht gefördertes Theater und eine Einzelperson, die in jahrzehntelanger Arbeit und Recherche versucht hat, in vollster Perfektion jedem gerecht zu werden. Die Wahl, Mark Seibert zu besetzen, ist eine Choice, die man künstlerisch hinterfragen kann. Ich versuche von mir zu schließen und ich versuche immer, mich reinzuversetzen und zu überlegen, wie ich etwas aus mir füttern kann. Ich würde mich gerne mit Mark unterhalten und ihn fragen, wie er es empfunden hat, aus sich heraus eine Transfrau darzustellen. Wie spürt er das, wie macht er das? Und da verstehe ich jede Kritik. Aber diesen Diskurs muss man führen und sich nicht online bashen. Es ist ein hoch emotionales Thema, an dem ganze Identitäten hängen. Ich denke, daran hat es gelegen, dass das nicht stattgefunden hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass beide Seiten ein Verständnis aufgebracht hätten. Das hat überhaupt nichts mit Mark Seibert zu spielen, die Rolle haben auch schon Pia Douwes gespielt, Uwe Kröger oder Rob Pelzer. Und jetzt spielt die Rolle aber auch AMY in der Oper in Leipzig und das empfinde ich als ganz große Chance und applaudiere dem Theater für diesen Mut.
Nicht nur ihr auf der Bühne müsst ihr mutig sein, ich habe auch das Gefühl, dass sich das Theaterpublikum verändert. Wie siehst du das?
Ich bekomme natürlich aktuell vorrangig positive Reaktionen mit. Ich habe aber teilweise bemerkt, dass gerade zur Zeit der EM, wo weniger junges Publikum da war, die direkte Resonanz nach »Zwischen Ost und West« zum Beispiel sehr verhalten war. Ich möchte nicht jedem älteren Menschen unterstellen, dass er oder sie ein Problem hat, wenn sich zwei Männer auf der Bühne küssen. Ich weiß aber, dass sich manche wegdrehen und da nicht hingucken. Die Blöße zu gehen geben sich viele aber nicht und ich finde das auch gut. Ich möchte, dass Menschen das sehen und bemerken, dass sich da zwei Menschen küssen.
Und wenn Heinz und Gerda zusammen nach Hause gehen, gibt es ein Abendbussi und da ist auch kein Problem.
Ich glaube, dass es eine stete Arbeit der Theater und Großproduktionen ist, am Publikum dranzubleiben. Ich mag deshalb auch keinen Personenkult, weil der auf bestimmte Personen setzt, die dann Tickets verkaufen. Man muss das Publikum abholen, auf generelle Sorgen und Gedanken hören. Dann schafft man es auch, die Theater voll zu kriegen. Unweigerlich geht es da auch um Ticketpreise. Wenn ich für zwei Tickets fünfhundert Euro zahle, dann ist das zu exklusiv. Es gibt Studententickets, aber wo? In der letzten Reihe! Da hast du dann nichts mehr miterlebt und siehst gar nichts. Wo ist die deutsche TodayTix App? Wo sind die Karten für fünfzehn Euro am selben Tag? Es ist ein Wahnsinn, dass es das nicht gibt. Dadurch verpassen wir eine komplette theaterinteressierte Generation.
Apropos »Cats«. Du hast mal über dein erstes Fitting in der Show gesprochen und beschrieben, dass dir als neuer Munkustrap ein weißer, hautenger Anzug angezogen wurde, der dann handbemalt wird. Und du hast von der Maskenbildnerin gesprochen, die …
… sagte: »I dont think we ever had a bigger Munkustrap than you«. Dieser Satz kommt bis heute wie aus der Pistole geschossen, wie du merkst.
Du sagtest, du hast daraufhin zehn Kilogramm abgenommen. Aber ich denke, das war nicht die einzige Konsequenz, oder? Magst du da noch mehr mit mir darüber sprechen?
Uff. Ja. Natürlich war das nicht nur der Gewichtsverlust. Sowas zu hören ist heavy und ich bin als Mann sicher in der privilegierten Situation, dass es eines von drei Malen war, dass ich so einen Kommentar über meinen Körper gehört habe. Jüngere Darsteller:innen sind da mehr aware, aber die casten meistens nicht. Und nur, weil jemand aware ist, ist er oder sie damit nicht fein. Diesen Satz werde ich nie wieder vergessen. Ich habe immer schon mit meinem Gewicht gestrugglet und mich nie wahnsinnig wohl in meinem Körper gefühlt. Das zieht sich dann durch. Ich habe auch jetzt seit einigen Wochen keinen Sport gemacht und fühle mich nicht wohl. Dabei ist es auch völlig egal, was andere Menschen mir sagen. Ich selbst habe es in mir drin und ich arbeite stetig an meiner Selbstliebe und meiner Selbstakzeptanz.
Kannst du diese Arbeit mit deinem Job vereinbaren? Insbesondere jetzt als Hans. Du hast gesagt, du willst kein Lustobjekt sein …
Natürlich bin ich eines. Ich glaube, man kann das vereinen, aber ich muss es für mich klar haben und mir dessen bewusst sein. Im Ballettunterricht habe ich immer gehört, dass ich eitel bin und Wert auf mein Äußeres auf der Bühne lege und ich möchte, dass das dementsprechend aussieht. Aber das ist ein schwieriges Thema, weil es ein optisches Gewerbe ist. Es gibt auch Produktionen wie beispielsweise »Hair«, bei denen ich mich tendenziell nicht bewerben würde. Ich sehe Nackheit auf der Bühne für mich nicht als Option.
Beim Musikvideo war es okay, weil Philipp und ich da gemeinsam durchgegangen sind, aber ich weiß genau, wovon du sprichst. Und wenn ich das sehe, bin ich damit nicht happy. Es ist aber auch eine Konfrontationstherapie für mich. Ich überlege in schlechteren Phasen immer, was ich jetzt tun kann, um diesen Zustand zu verändern und worum es eigentlich geht. Das kommt und geht in Wellen.
»Viele sehen Glitzer, Glamour: alles schicki.«
Sag mir gerne, wenn wir mit der nächsten Frage zu privat reingehen, du musst das nicht beantworten. Kommen diese Wellen mit Audition-Prozessen?
Das ist fein für mich. Ich finde es so wichtig, da Sichtbarkeit zu schaffen und gebe dir da gerne mein Vertrauen. Viele sehen: Glitzer, Glamour, alles schicki. Da nehme ich mich auch nicht raus. Natürlich stelle ich tendenziell meine beste Version dar. Trotzdem möchte ich darüber sprechen, weil es fast allen so geht.
Diese Selbstliebe-Wellen kommen mit den Auditions, ja. Gerade jetzt, wenn ich nicht zur Audition eingeladen werde; diverse Film- und Werbespot-Anfragen ohne Rückmeldung. Natürlich kommen Zweifel, ob ich es nicht wert bin, dass mir jemand eine Absage schreibt. Ich finde es normales und menschliches Miteinander. Niemand muss mich mit Küsschen begrüßen, aber das ist ja wohl das Mindeste, was ich erwarten kann.
Das ist leider oft ein Problem der Kreativbranche.
Ja, aber woher kommt das. Ist das Überheblichkeit?
Vielleicht. Aber auch unsere Hussel-Culture. Wenn du es nicht bist, gibt es zehn andere, die es auch können. Und du gehst wirklich komplett selbst damit um, weil du keine Agentur hast. Wieso nicht?
Ich habe Erfahrungen gemacht und entschieden, dass ich das selbst kann. Es ist eine Typfrage, aber ich glaube, dass es möglich ist. Wir sind nicht in der Situation, dass man nur Jobs bekommt, wenn man von einer Agentur vorgeschlagen wird. Ich mag das Gefühl zu verhandeln. In Fürth habe ich damals meinen ersten Vertrag verhandelt und natürlich ist das ein Druck. Ich habe gesagt, dass ich es nicht unter einem bestimmten Wert mache. Ich habe ein Standing und trete damit für mich ein. Diese Ansage ist auch schwer. In Wien habe ich einen Job gemacht, der mir weniger als Arbeitslosengeld einbrachte.
Warum hast du zugesagt?
Weil es ein sehr guter Regisseur war und tolle Kolleg:innen dabei waren. Ich habe zu der Zeit in Wien gewohnt und habe es als Challenge gesehen. Es war ein komisches Stück und ich habe es aus Möglichkeit gesehen, auch mal lustig auf einer Bühne zu sein.
Was nicht unbedingt deinem bisherigen, selbst gewählten Typecast entspricht.
Ja. Ich bewerbe mich nicht auf alles, weil es für mich einfach passen muss. Ich möchte stücke- und rollenmäßig das spielen, was ich bereichernd und gut finde. Gleichzeitig musste ich lernen, für mich einzustehen. Ein Schauspiellehrer von mir hat in mir immer nur den zwei Meter großen Mann gesehen, dem er andere Emotionen zusprechen wollte als die, die ich vielleicht gegeben habe.
Toxische Männlichkeit?
Exactly. Und da habe ich mich aber auch behauptet und ihm gesagt, dass ich nicht schreien muss. Aber wenn ich schreie, dann wächst da kein Gras mehr, weil ich so viel Kraft habe. Ich musste familiär bedingt auch erstmal lernen, in mir den Safe Space zu finden, dass ich schreien darf und das rauslassen kann und danach auch wieder zurückkommen kann.
Du bist sehr von deinen Werten getrieben, oder?
Auf jeden Fall. Das geht einher mit meinen starken Prinzipien, die ich auch auf die Bühne trage. Ich differenziere da nicht und habe keine Bühnenpersona. Natürlich variiert das von Rolle zu Rolle, aber ich würde immer schauen, was meine Rolle trifft und bewegt.
»Ich spiele bald Joachim, keine unproblematische Figur.«
Wie geht es bei dir demnächst weiter?
Ich werde als nächstes ein Stück spielen, wo ich nur zwei Shows im Monat habe. Ich mache den Conférencier in »Cabaret« in Chemnitz. Das wird natürlich sehr zerstückelt, weil es Programmtheater ist. Da habe ich dann eine ganz andere Routine. Und ich brauche Routine, weil ich weiß, was mich erwartet und mich in diesem Rahmen herausfordern kann. Ich habe das zum Beispiel bei Lord Capulet in »Romeo & Julia« gemerkt. In den letzten zwei Shows war ich in meiner Schrei-Szene auf dem Level, auf dem es immer hätte sein müssen.
Als Conférencier kannst du natürlich die Extravaganz eines Eddie Redmaynes sein, oder eine sehr zentrierte Interpretation zeigen. Was ist dein Plan?
Die Rolle wird eigentlich nicht mit Typen wie mir besetzt. Ich bin eher ein Cliff. Obwohl ich als Darsteller natürlich die andere Seite kann. Ich werde zuerst das Buch von Isherwood lesen, um mir klar zu werden, wie er das Setting beschreibt. Die Inszenierung ist dann eher klassisch, schick, sehr golden Twenties. Ich suche mir für die Rolle aber trotzdem die Prise des gewissen Etwas. Der kann ja auch sehr dreckig sein, ich frage mich, welche Rolle er einnimmt. Darauf freue ich mich sehr.
Und heute probst du aber erstmal dein Cover Joachim in »Ku Damm 59« , oder?
Ja. Es ist komisch, Text für eine Show zu lernen, die man seit sechs Monaten jeden Tag spielt. Hinter der Bühne kann ich jeden Text mitsprechen, aber im Moment kann ich nicht helfen, weil ich nicht weiß, was passiert. Ich lerne die Show also komplett neu. Und das ist spannend, weil Joachim auch keine unproblematische Figur ist. Man kann eine Vergewaltigung vor drei Jahren nicht mit dem Spruch »Ich war ein Arschloch« abfrühstücken. Da bin ich gespannt, wo ich in der Arbeit den Zugang zu ihm finde. Faktisch finde ich das sehr schwierig.
Ich habe damals mit Jakob Hetzner über seinen Joachim gesprochen. Und gerade im ersten Teil war die Rolle ja extrem problematisch. Das Publikum aus dem zweiten Teil nimmt Joachim im Zweifel sogar eher als Good Boy wahr.
Ja, genau. Natürlich möchte ich beide Teile des Musicals spielen und das auch in die Rolle mitnehmen. Auf diesen Konflikt bin ich sehr gespannt.
Du antwortest oft auf meine Storys, wenn es um Bücher oder Serien geht, wir tauschen uns da manchmal aus.
Natürlich (lacht)
Aus welchem Buch würdest du gerne ein Musical machen?
Ganz aktuell: »22 Bahnen« von Caroline Wahl. Das wird zurecht verfilmt, aber nicht für die Bühne adaptiert. Oder »Der erste letzte Tag« von Sebastian Fitzek. Und »Stadt der Diebe« von David Benioff. Solche Geschichten würde ich sehr gerne mal auf einer Bühne sehen.
Die abschließende Frage: Du darfst eine Botschaft an die Musicalwelt senden, welche ist es?
Seid interessiert, seid offen, hört euch zu und lasst alle Stimmen zu und zu Wort kommen. Man erlebt oft, dass Leute sofort eine Haltung haben, aber ich würde mir wünschen, dass Menschen erstmal zuhören. Wie Wolfgang sagt: »Die Fronten verhärten sich.« Wir haben krasse Zeiten vor uns mit der Trump-Wahl, mit der AfD. Wie kann man das aufweichen? Das erfordert Mut. Und diese Aufgabe habe ich auch als Darsteller, deshalb freue ich mich auf »Cabaret« in Chemnitz.
Theater ist Spiegel der Gesellschaft. Es muss nicht immer einen extrem hohen Anspruch haben, es muss nicht immer ein Kaltschlag sein, aber man sollte auch nicht nur die bekanntesten Udo Jürgens Hits zusammenpacken und sie auf einem Kreuzfahrtschiff spielen.
Danke für dieses inspirierende Gespräch mit dir, Alex!
Hach, schön war das.
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